Nicht zu retten

■ Schuld und Sühne oder Hysterie und Verdrängung? Ariel Dorfmans Drama „Der Tod und das Mädchen“ ist das Politstück der Saison. Volker Hesse hat am Münchner Residenztheater den bundesweiten Inszenierungsreigen eröffnet: Mäßiger Beifall

Ein Mann kommt ins Gefängnis, er hat sich über Mißstände in der Stadt öffentlich mokiert. Nach zwei Jahren endloser Verhöre wird er entlassen. Beruflich degradiert, von seiner Umwelt gemieden, von seiner Frau verlassen, strengt er — das alte Regime hat ausgedient — seine Rehabilitation an. Er muß erfahren, daß es ein Protokoll seiner Verhöre nie gegeben hat. Später sieht er den Richter von einst in einer Limousine vorüberfahren.

Deutschland 1992. Die Opfer, die hierzulande nach Gerechtigkeit rufen, stehen nicht allein. In seinem Stück „Der Tod und das Mädchen“, das zur Zeit an mehr als 20 deutschen Theatern inszeniert wird — das Münchner Residenztheater machte am Sonntag den Anfang —, beschreibt Autor Ariel Dorfman das Zusammentreffen von Opfer und Täter. Ort: „Ein Land, wahrscheinlich Chile, aber auch jedes andere Land, das sich zu einer demokratischen Regierung bekennt, kurz nach einer langen Zeit der Diktatur.“

Dorfman, gebürtiger Argentinier, in den USA und Chile aufgewachsen, hatte vor vielen Jahren eine Novelle zu schreiben begonnen: Ein Mann hat eine Reifenpanne. In dem Fremden, der ihn nach Hause bringt, glaubt seine Frau ihren Folterer zu erkennen. Erst 1990, als Dorfman nach 17 Jahren Exil nach Chile zurückkehrte, nahm das Stück Form an: Der Ehemann, ein Anwalt, ist jetzt Mitglied der Untersuchungskommission zur Aufklärung von Verbrechen mit Todesfolge aus der Zeit der Diktatur geworden. Eine derartige Kommission wurde in Chile eingerichtet, durfte aber die Täter weder namentlich nennen noch verurteilen. Der Anwalt wird advocatus diaboli: Er muß den Vergewaltiger seiner Frau verteidigen.

Ein Quartett spielt „Der Tod und das Mädchen“ von Schubert, das Stück, das der Peiniger abspielte, wenn er sich an der jungen Frau verging. Eine Sanddüne, darin eingeschnitten ein Sitzplatz, ein Tisch, zwei Stühle. Im Hintergrund eine windschiefe Hütte, wohl das Strandhaus der Escobars. Ein mickriges Bäumchen zur Rechten, ein paar Steine, Krüppelkonipheren und ein munterer Quell zur Linken, wie sie sich die Väter der Fußgängerzonen nicht schöner hätten erdenken können (Bühne und Kostüme: Marietta Eggmann, Ernst Wiener). Dazu heftiges Meeresrauschen, das sich auf den billigen Plätzen eher als das Gurgeln einer schlecht entlüfteten Heizung ausmacht. Hier keifen die Escobars, Paulina (Krista Posch) und Gerardo (Wolfgang Hinze), um die Reparatur des Ersatzreifens, eine Lektion aus dem Lehrbuch: „Vom Umgang mit eloquenten Juristen“. Gerardo im grauen Anzug, korrekt, Paulina im weißen, langen Kleid, Marke „Jungmädchentraum“, mal zickig, mal ganz Frauchen. 15 Jahre ist es her, seit sie den Kellern der Junta entronnen — verwunden hat sie die Zeit der Folter nie.

Regisseur Volker Hesse zeichnet die Paulina als Kindfrau, weinerlich und aggressiv. Warum sie, als sie ihrem ehemaligen Vergewaltiger den Prozeß macht, ein schwarzes Negligé trägt, ist nicht nachzuvollziehen. Wenn sie sich dann auch noch auf den Boden wirft, die Beine entblößt und gespreizt, wird das männliche Vorurteil manifest: Eigentlich hat sie es ja doch gewollt. Mancher Zuschauer dürfte dem eunuchenhaft- unbewegten Roberto Miranda (Edgar Walter), dem mutmaßlichen Folterknecht, beipflichten, der Escobar rät, seine Frau in psychiatrische Behandlung zu geben.

Doch Paulina will ihr Recht, will die Schatten der Vergangenheit abschütteln. Sie weiß, was sie tut. Die Kommission, der auch ihr Mann angehört, verfolgt nur solche Fälle, die tödlich endeten. Ihr Fall bliebe unerhört — so greift sie zur Initiative. Doch ist es nicht Hysterie, die sie an ihrem Vorhaben auch gegen die wohltemperierten Argumente ihres Mannes festhalten läßt, sondern die einzige Möglichkeit einer rational denkenden Frau, Rache zu nehmen.

Nur ist die wild um sich schlagende Krista Prosch weit davon entfernt. Auch Edgar Walter, ein stummer Fettkloß, ist eher jämmerliche Gestalt als ein eiskalter Opportunist, der sich nur deshalb den Escobars andient, um das Kommissionsmitglied für sich zu gewinnen.

Brillant dagegen ist Werner Hinze, der ehrenhafte Gerardo. Heilfroh war er, all die fünfzehn Jahre nicht erfahren haben zu müssen, was seiner Frau wirklich geschehen ist. In seinem Weltbild ist ein solcher Fall nicht vorgesehen. Aber während der Gefangenschaft seiner Frau hat er ein Verhältnis angefangen. Auch das läßt sich mit dem Bild vom aufrechten Gerardo Escobar nicht vereinbaren, seine Eloquenz versagt. Er kann und will im Grunde seine Frau nicht in ihrem Vorhaben unterstützen.

Um die Sache hinter sich zu bringen, geht er auf den Kompromißvorschlag Paulinas ein, Roberto ein Geständnis abzuzwingen. So muß er sich von ihr anhören, was er nie hören wollte, um die Details an Roberto zu übermitteln.

Was Hesse als „Thriller mit mythischen Aspekten“ interpretiert, ist bei Dorfman wesentlich subtiler angelegt. Ob Roberto wirklich schuldig ist, ob er Paulinas Prozeß überlebt, ob es vielleicht nicht nur der Geist des Peinigers ist, der seinem Opfer im Konzertsaal erscheint, das ließ er offen. „Ihr Folterer wird immer bei ihr sein. Ob sie selbst Gewalt gegen ihn anwendet oder nicht, es wird ihr Problem nicht lösen“, schreibt er. Dieser Konflikt um Verbrechen und Verurteilung, um Selbstjustiz oder Vergessen wird im Residenztheater verwässert. Hesse will die Schuldfrage eindeutig beantworten. Roberto ist der Täter. Als er das Geständnis unterzeichnet hat, erkennt Paulina die Sinnlosigkeit der Selbstjustiz und läßt ihn laufen.

Als die Escobars einige Zeit später ein Konzert besuchen — es wird „Der Tod und das Mädchen“ gegeben —, glaubt Paulina zum ersten Mal das erinnerungsbeladene Stück ertragen zu können. Doch die Vergangenheit läßt sie nicht aus: In den Reihen der Zuschauer erblickt sie ihren Peiniger Roberto wieder. Die Zuschauer freuen sich, den Dicken wohlbehalten in Anzug und Fliege zu sehen, Paulina, so mußten sie über zwei Stunden erfahren, ist ohnehin nicht zu retten. Die Inszenierung auch nicht. Der Beifall ist mehr als verhalten. Lilli Thurn und Taxis

Ariel Dorfman: „Der Tod und das Mädchen“. Regie: Volker Hesse. Mit Krista Posch, Wolfgang Hinze, Edgar Walter Münchner Residenztheater, wieder am 17.,22., 29. und 31.10.