Japans graue Eminenz tritt ab

Nach dem Rücktritt des Fraktionschefs der Tokioter Regierungspartei, Shin Kanemaru, ist die Nachfolge noch unklar/ Neue Ära japanischer Politik — aber voller Unwägbarkeiten  ■ Aus Tokio Georg Blume

Ist das nun eine Regierungskrise oder nicht? Wenn ja, wäre es dann nicht Zeit für einen Wechsel an der Spitze? Schließlich hat der mächtigste Mann des Landes gestern seinen Rückzug aus der Politik erklärt. Muß es da nicht einen Nachfolger geben?

Fragen über Fragen überschatten die japanische Politik, nachdem Shin Kanemaru, der einflußreiche Fraktionschef und heimliche Herrscher im Reich der aufgehenden Sonne, am Mittwoch mit sofortiger Wirkung alle Ämter niedergelegt hat. Nicht einmal sein Abgeordnetenmandat will der 78jährige Oldtimer behalten. Anlaß für den kurzfristigen Abtritt Kanemarus war eine illegale Spende über 6 Millionen Mark, die der Politiker von der eng mit der Mafia verbundenen Paketfirma Sagawa Kyubin bezogen hatte.

Dem Fraktionsvorsitzenden der seit 1955 regierenden Liberal-Demokratischen Partei (LDP) wurden sogar persönliche Verbindungen zu dem verstorbenen Gangster-Chef Satoshi Ishii nachgesagt. Das reichte schließlich, um die Öffentlichkeit so in Aufregung zu versetzen, daß an ein Weitermachen für Kanemaru nicht mehr zu denken war.

Wenn jetzt eine neue Ära japanischer Politik ohne Kanemaru beginnt, sind doch ihre Inhalte noch unbestimmt. Sicherlich hätte man größeren Einblick in die japanischen Zustände, wenn das politische Amt und die real ausgeübte Macht auch nur im entferntesten etwas miteinander zu tun hätten. Doch das ist in Tokio nicht so.

Es geht ein Mann von der Bühne, der offiziell keinerlei Entscheidungsgewalt über die Regierungspolitik gehabt hatte und doch alle großen Regierungsentscheidungen in letzter Instanz für sich allein entschied. Was wird, wenn Deng Xiaoping in China stirbt? Genausowenig wissen die Japaner derzeit über ihre zukünftige Regierungspolitik.

Auch Premierminister Kiichi Miyazawa weiß keinen Rat für die Zukunft. „Ich nehme die derzeitigen Geschehnisse mehr zu Herzen als irgend jemand sonst“, sagte er am Mittwoch in den TV-Nachrichten. Weiter nichts. Zuvor hatte das japanische Fernsehpublikum bereits alles über die Tagesentwicklungen im größten Skandal der Nachkriegsgeschichte erfahren, dann erst wurde der Regierungschef eingeblendet.

Die Rede ist nun von einem Machtkampf innerhalb der größten Parlamentsfraktion der LDP, die Kanemaru bislang leitete. An der Spitze der Fraktion steht heute Ichiro Ozawa, der von Kanemaru selbst geförderte Thronfolger. Doch Ozawa, ein draufgängerischer, entscheidungsfreudiger Politiker mit nationalistischen Allüren, hat innerhalb der Partei viele Gegner.

Diese Rivalitäten kamen erstmalig zum Ausdruck, als die Fraktion am Montag ausgerechnet die zwei Intimfeinde Ozawas zu den Stellvertretern des Fraktionsvorsitzenden nominierte. Es sind der ehemalige Finanzminister Ryutaro Hashimoto und Ex-Justizminister Seiroku Kajiyama. Zwischen dem liberalen Hashimoto und dem rücksichtslosen Machtpolitiker Ozawa verlaufen nun die politischen Fronten innerhalb der LDP, ohne daß sich sagen ließe, wer derzeit die Oberhand besitzt.

Genau damit aber zeigt sich eine der Besonderheiten des politischen Systems in Japan: Das Land bleibt auch ohne „Herrscher“ regierbar. Nicht umsonst wurde der Kaiser im vergangenen Jahrhundert durch die Verfassung zum Alleininhaber aller Macht im Staat erhoben — und blieb doch macht- und verantwortungslos.

Das moderne Japan wurde nie von einzelnen Personen, statt dessen immer von Beraterstäben und Fraktionsrunden regiert. Das war ein Grund dafür, daß sich die Kriegsverbrecherprozesse in Tokio so viel schwieriger führen ließen als in Nürnberg. Der Politologe Masao Maruyama erkannte darin für Japan die Gefahr, daß „grenzenlose Verantwortlichkeit jederzeit in gigantische Verantwortungslosigkeit umschlagen“ kann. Der Fall liegt heute nicht viel anders. Mit seinem Rücktritt will Kanemaru grenzenlose Verantwortlichkeit übernehmen, kann damit aber nicht über die gigantische Verantwortungslosigkeit innerhalb der Regierungspartei hinwegtäuschen, für die eine 6-Millionen-Spende selbstverständlich Kleingeld ist. Derweil ist in der LDP niemand in Sicht, der das politische System des Landes reformieren will.

Geht also in Japan alles weiter wie bisher? Mit Sicherheit nicht. Zu stark sind die Einbrüche, als daß sich die japanische Politik noch auf lange Sicht in den bequemen Fahrwassern des gesichtslosen Merkantilismus bewegen könnte. Handel allein genügt nicht mehr.

Nichts macht das für Japan deutlicher als der machtvolle Parteitag der chinesischen KP, der zeitgleich zur Krise in Tokio verläuft. Deutet sich hier nicht erstmalig an, was alle japanischen Politiker längst für das kommende Jahrhundert befürchten: daß nämlich das neue chinesische Wirtschaftswunder das japanische eines Tages überholen kann?

Ebensoviel Unheilvolles dringt aus Amerika über den Pazifik, wo Bill Clinton einem Wahlsieg täglich näher rückt. Der demokratische Kandidat als möglicherweise protektionistischer Präsident kündigt schwere Zeiten für die japanische Handelspolitik an, die gestern — allen politischen Unwettern zum Trotz — den höchsten monatlichen Bilanzüberschuß aller Zeiten verbuchte. Diesen neuen Herausforderungen aus China und Amerika muß sich das Land nun ohne Kanemaru stellen.

Oft braucht es in Japan Jahre, bis sich der wirkliche Nachfolger herausschält. Als Kanemarus Vorgänger, der ehemalige Premier Kakuei Tanaka, nach einem Schlaganfall 1985 aus der Politik ausschied, vergingen drei Jahre, bis Kanemaru dem ganzen Land als die neue Nummer eins erschien. Zwischenzeitlich erstarrte die Tokioter Politik in der Immobilität. Diese Gefahr droht nun erneut.