Mit Lügentest gegen Studierwilligkeit

■ Behinderter Student will Anerkennuntg seines Studiums als Reha-Maßnahme erreichen / Gericht sagt nein. Begründung: Keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt / Erfolgreiches Studium macht keinen Eindruck

erreichen / Gericht sagt nein.

Begründung: Keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt / Erfolgreiches Studium macht keinen Eindruck

Frust auf der ganzen Linie erfuhr gestern der HWP-Student Jochen Münchmeyer vor dem Landessozialgericht. Der Sprachbehinderte ficht seit fünf Jahren mit dem Hamburger Arbeitsamt einen Kampf um die Anerkennung seines Soziologiestudiums als Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation. Gestern erteilte ihm nun das Landessozialgericht unter Vorsitz von Richter Andrew von Borstel in zweiter Instanz abschlägigen Bescheid. Begründung: Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt seien zu schlecht.

Jochen Münchmeyer wurde als sechsjähriger von einem Auto angefahren, erlitt einen Schädelbasisbruch, ist nach offiziellem Gutachten zu 60 Prozent körperbehindert. Die Arbeit als Tonassistent beim NDR wurde ihm nach sechs Jahren körperlich zu schwer. 1987 sprach der heute 31jährige erstmals beim Arbeitsamt vor, beantragte eine Umschulungsmaßnahme. Das Arbeitsförderungsgesetz (Afg) läßt im Ausnahmefall auch die Finanzierung eines Studiums zu, wenn es keine andere Möglichkeit zur beruflichen Wiedereingliederung gibt.

Genau darum dreht sich der jahrelange Rechtsstreit. Das Arbeitsamt wehrte sich mit Händen und Füßen, unterstellte Jochen Münchmeyer zunächst, er sei „nicht studierfähig“. Noch nachdem Münchmeyer die Aufnahmeprüfung zur HWP bestanden hatte, mußte er einen erniedrigenden psychologischen Test über sich ergehen lassen. Fazit des Psychologen Kanngießer: Für den Probanden komme jede Umschulungsmaßnahme in Frage, nur kein Studium.

Münchmeyer legte Widerspruch gegen die Entscheidung des Arbeitsamtes ein. Die Folge: ein weiterer Psycho-Test. Diesmal wurde sogar die sogenannte Lügen-Liste- Lingen angewandt, ein Verfahren, das herausstellen soll, ob ein Proband die Wahrheit sagt. Ergebnis: Der HWP-Student ist studierfähig. 1988 kam es schließlich zum ersten Prozeß vor dem Sozialgericht, den das Arbeitsamt verlor. Ein neuer Gutachter hatte Jochen Münchmeyer bescheinigt, daß er geistig schwierige Arbeiten unter Ausschluß von Zeitdruck sehr wohl bewerkstelligen kann. Das Gericht kam zu der Einsicht, daß nur durch eine Fortsetzung des Studiums eine Rehabilitation möglich sei.

Inzwischen hat der HWP-Student seine Diplomarbeit abgeschlossen und ein Zusatzstudium begonnen. Ein Beweis seiner Fähigkeiten, die vom Gericht gestern dennoch einmal peinlich genau abgefragt wurden. Welche Note er in welcher Klausur geschrieben hat und wieviele Wochen denn nun ge-

1nau er mit seiner Diplomarbeits zugebracht hat, das zu wissen war Richter von Borstel sehr wichtig. Bei der Entscheidung des Gerichts spielte es keine Rolle. Ausschlaggebend waren diesmal die Worte des Elmshorner Arbeitsamtsberaters

1Diethelm Rechenberg, der das Gericht mit einem Hagel von Fakten und Statistiken eindeckte, die allesamt besagten, daß es bereits genug arbeitslose Soziologen gibt. Da nützte es auch nichts, daß der Geschäftsführer des Deutschen Paritä-

1tischen Wohlfahrtsverbandes zuvor eine ganze Palette von Beschäftigungsmöglichkeiten für HWP-Absolventen aufgezählt hatte — auch für Behinderte. Rechenberg: „Im Sozialbereich muß man gesund sein“. Kaija Kutter