: Gefährlich normal
Premiere im Maxim Gorki Theater: Carl-Hermann Risses hat Joshua Sobols „Ghetto“ neu inszeniert ■ Von Petra Kohse
Das jüdische Ghetto in Wilna, 1943: Gens, der Chef der jüdischen Polizei, liefert 406 Juden den Nazis aus, um 1.000 oder 1.500 andere zu retten. Ist er ein Mörder? Eine Schauspielerin des Ghetto-Theaters flieht, die anderen werden dafür hingerichtet. Ist die Überlebende schuldig?
In Joshua Sobols Stück „Ghetto“, das 1984 in Israel uraufgeführt wurde, geht es um Ethik. Man vergißt zwar nie, daß an erster Stelle die Nazis schuldig sind, aber es geht auch um die Frage von Mitschuld und Verantwortung der Opfer. Das auf authentischen Zeugnissen beruhende Drama zeigt auch, daß die Juden im Ghetto noch Hoffnung hatten, den Wunsch, sich zu amüsieren, zu vergessen, Theater zu spielen. „Ghetto“ ist ein Musikdrama, durchsetzt mit Liedern, die im KZ geschrieben wurden. Vielleicht 70.000 Juden wurden im Wilnaer Ghetto getötet. Doch vor ihrem Tod haben auch sie gelebt, sich geirrt, gemordet, geraubt, sich bereichert oder Widerstand geleistet.
Nach der fulminanten Inszenierung, die Peter Zadek vor acht Jahren in der Freien Volksbühne zeigte, hat kein Berliner Theater dieses bedrängend dichte und rollensatte Stück mehr auf den Spielplan gesetzt. Jetzt ist es im Maxim Gorki Theater zu sehen. Den Theaterraum im Wilnaer Ghetto, Schauplatz der Handlung, hat Peter Schubert ganz steril gehalten, man assoziierte etwas ratlos das Innere eines U-Boots oder auch (weniger ratlos) einen futuristischen Operationssal im integrierten Massengrab: Wände und Boden sind mit Metallplatten beschlagen, vorne öffnet sich der Boden zu einem mit blutroten Stoff gefütterten Graben. Rechts führt eine schmale, langgestreckte Rampe hoch zu einer Art Kommandobrücke. Darunter befindet sich der Ausgang zum Ghetto. Von dort strömt rotes Licht in den fensterlosen Raum, wie der Widerschein brennender Häuser.
Carl-Hermann Risses Inszenierung trennt im Ganzen zu stark zwischen Dur und Moll, zwischen Heiterkeit und Verzweiflung, Lebensmut und Angst. Stumm vor Entsetzen stehen die Schauspieler, wenn der SS-Mann Kittel sie zum Singen und Tanzen zwingt, um dann aber – wehe, wenn sie losgelassen! – die heiterste jiddische Folklore zu bedienen. Diese hilflos biedere Schwarz-weiß-Zeichnung löst sich erst gegen Ende auf, Spiel und Gesang erhalten dann auch in den Gruppenszenen jenen doppelten Boden, den dieser Tanz auf dem Vulkan haben muß. Herausragend allerdings die Auftritte von Ulrich Anschütz und Irene Kleinschmidt: Als Puppenspieler Srulik samt Puppe geben sie die wahrsagenden Narren kabarettistisch präzise und mit böse-trauriger Verve.
„Ghetto“ ist in erster Linie ein Schauspieler-Stück. Es braucht für die Rollen von Kittel und Gens zwei Darsteller, die sich ebenbürtig sind. Kittel darf nicht denunziert, Gens nicht glorifiziert werden. Mit Götz Schubert hat Risse einen Kittel, der die Inszenierung streckenweise im Alleingang trägt. Mal sadistischer Dandy, mal einsamer Herrenmensch, mal in Mäzenatenpose, dann wieder in Mörderlaune, legt Schubert den egoistischen Humanismus dieses saxophonspielenden Überzeugungsnazis offen. Da pokert einer um Menschen, berauscht sich an deren Angst und ist doch selbst ein Mensch, der sich in Chaja, die jüdische Sängerin verliebt — Susanne Jansen sieht schön aus, kann singen und mehr soll wohl nicht sein. Mit öligem Schneid, aber nicht unsympathisch, zackig, aber immer elegant – Kittel ist keine Bestie, sondern ein deutscher Jedermann, der nette Junge vom Nebentisch im Jazzkeller. In allen Facetten schillert Schubert gefährlich normal.
Klaus Manchen als Gens ist stark in seinen Szenen mit Schubert, zeigt im Umgang mit den Ghetto-Bewohnern jedoch eine unangemessen aufgeräumte Pakken-wir's-an-Mentalität, eine betuliche Förstersfrische, die ab und zu ins Grüblerische umkippt, aber auch damit die moralische Gratwanderung Gens' nur vage zu umreißen vermag. Der Spannungsbogen fällt ab, hier irrlichtern Stadttheatertöne über die Bühne. Auch Daniel Minetti zeichnet seinen Bibliothekar Kruk zu unscharf. Er hätte die Opposition zu Gens im Ghetto zu verkörpern, ist der Anführer des Untergrunds! „Es ist nicht die Zeit, Theater zu spielen“, sagt er am Anfang, als ihn Gens ins Theater einlädt. Als Kruk dann sogar mitprobt, ist es ein aufrührerisches Stück, das Gens sogleich verbietet. Minetti spielt ihn, den Antizionisten als verschlafenen Bücherwurm, als Pantoffelrevoluzzer in Ärmelschonern. Aber obwohl damit ein wichtiger Kontrapunkt schlichtweg fehlt, leidet das Stück kaum, „Ghetto“ läßt sich vermutlich gar nicht kaputtspielen.
Im Programmheft ist ein Text abgedruckt, den Sobol im vergangenen Monat geschrieben hat. Er betont die Aktualität des Dramas mit Hinweis des wachsenden Rechtsradikalismus in Deutschland. Wer möchte nicht zustimmen? Aber „Ghetto“ ist eigentlich kein Stück, das sich nur durch solche traurig-aktuellen Bezüge rechtfertigt. Es ist auch ein Geschichtsdrama, ein Machtdrama, ein Liebesdrama (Kittel erschießt die Schauspieler, weil Chaja geflohen ist), ein Drama, das vom Leben vor dem Tod handelt und vom Handel mit Leben und Tod. Es ist ein Drama, das immer aktuell ist. Und es wurde höchste Zeit, es in Berlin wieder zu zeigen.
Joshua Sobol: „Ghetto“. Regie: Carl-Hermann Risse, Ausstattung: Peter Schubert, musikalische Leitung: Alan Bern, Darsteller: Ulrich Anschütz, Hilmar Baumann, Gerd-Michael Henneberg, Susanne Jansen, Irene Kleinschmidt, Klaus Manchen, Daniel Minetti, Thomas Rühmann, Götz Schubert, Jürgen Trott, u.a., Maxim Gorki Theater, nächste Aufführungen: 28./ 30./ 31. 10.
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