Die verlorene Unschuld des Konsumenten

■ Zur Moral einer Werbekampagne

Brave!!! Continua cosi!! — Extrem geschmacklos. Unanständig. „Die Bilder respektieren nicht einmal den erlösenden Tod, der uns alle befreit. Auch von solchen Fotografen.“ Was die Erwachsenen ins Besucherbuch der Ausstellung „Schockbilder. Oliviero Toscani und die Benetton-Werbung“ schreiben, ist urteilend, zensierend, polarisierte Meinung. Der Schritt vom Bild eines blut- und schleimumhüllten Neugeborenen, dessen Nabelschnur auf blauem Hintergrund leuchtet, zum Skinhead sei klein. Die SchülerInnen hingegen, die sich schar- und paarweise bei den großformatig dargebotenen Schaubildern in der Orangerie am Münchner Englischen Garten einfinden, empfinden keinen Widerspruch. Es gibt Probleme in der Welt, und Pullover, die man einfach haben will.

Das Gespräch um Legitimität oder Illegitimität der Werbekampagne des italienischen Strickwarenherstellers Benetton dauert schon eine ganze Weile. Vor zehn Jahren wurde sie von dem Fotografen Oliviero Toscani unter dem fröhlichen Image der Umarmung von Völkern und Rassen in die Welt gesetzt. Als anstößig wurde die internationale Versammlung von Kids, die meistens ein Lachen und natürlich stets das Benetton- Outfit verband, nicht wahrgenommen. Erst als der Fotograf begann, das Produkt aus dem Bild zu verbannen und statt dessen einen Pfarrer zu präsentieren, der eine Nonne küßt, kam die Werbekampagne in den Bereich moralischer Diskussion.

Die neuesten Botschaften des globalen Meinungsfeldzugs für Toleranz sind sieben ausgewählte Agenturfotos, die für Toscani „den Ausdruck starker menschlicher und universeller Problematik vermitteln. Im Kontext der Benetton- Werbung erhalten sie meiner Meinung nach einen zusätzlichen Wert: die Fähigkeit, einem weltweiten Publikum die brandheißen und widersprüchlichen Elemente unserer gemeinsamen existentiellen Erfahrungswelt nahezubringen.“ Ein elektrischer Stuhl zum Beispiel, ein Albino-Mädchen unter seinen schwarzen Stammesschwestern, ein ölbeschmierter Vogel vom Persischen Golf, ein sterbender Aids-Kranker.

In jedem Fall sind es schöne Bilder über das Unheil. Der Aids- Kranke gemahnt an manchen in der Kunst gestorbenen Jesus. Aber nicht ihre ästhetische Qualität macht sie zum Skandalon, sondern daß sie alle das Firmen-Logo tragen. Die Firma Benetton hat ihren Umsatz von 1,5 Milliarden DM 1992 um 16 Prozent erhöht. Darf sie so Geld verdienen? Darf man so werben?

Diese Frage brachte eine zehn Tage vorher ausverkaufte Veranstaltung im Münchner Stadtmuseum zuwege, den Fotografen selbst samt acht Teilnehmern unter der Leitung von Johannes Willms, dem neuen Chef des SZ- Feuilletons, aufs Podium. Das angeregte Publikum, viel Werbebranche darunter, begrüßte die Diskutanten mit Applaus, und der Leiter des Münchner Fotomuseums, Ulrich Pohlmann, zusammen mit Daniela Goldmann und dem Beck-Forum Initiator der Veranstaltung, die Anwesenden mit dem strittigen Punkt: „Ist ein Bekleidungsunternehmen eine moralische Anstalt?“ Diese Trägerschaft wollte der Italiener nun nicht übernehmen. Denn er habe nie Werbung gemacht. Er sei Fotograf und dokumentiere, was er höre und sehe — sogar „visionär, zum Beispiel mit dem Bild des Soldatenfriedhofs im Vorfeld des Golfkriegs, was die Politik später zum traurigen fait accompli mache. Intelligent oder zynisch? Unbestritten ist, daß das Corporate Communications Concept auch Strickwaren verkauft, mit ansteigendem Gewinn. Allerdings nicht im Billiglohnverfahren und in einem Drittländerstandort produziert, wie der Einwurf der Grünen Sabine Csampai lautet, der ja ein triftiger Vorwurf gewesen wäre. Dann wären die Pullover zynisch — so bleibt das „Kommunikationsverfahren“ intelligent. Sollen die Betrachter und Konsumenten die Bilder interpretieren. „Wir wollen nicht die ersten (auf dem Markt) sein. Wir wollen die einzigen sein.“

Insofern hat Klaus Staeck, betroffener Opponent auf dem Podium, recht, wenn er in der Vereinnahmung von tabuverletzenden Bildwelten eine generelle Vereinnahmung der Sichtweisen durch den Markt sieht. Ziel sei, daß jedes oder zumindest ein spezifisches Bild auch ohne Logo die Firma signalisiert. Und wo bleibt dabei die Moral? Nicht mehr da, wo sie war.

Tabuverletzungen im Dienst von Aufklärung und Mündigkeit sind tatsächlich in zweitausend Jahren Abendland das Privileg von Künstlern, Gruppen, Parteien und Ideen gewesen, die sie zu einem höheren und fernen Wohl der Menschheit einsetzten. Das Vorzeigebild von Markt und Wirtschaft dagegen ist seit der Zeit von Bedürfnisweckung statt Bedürfnisbefriedigung der schöne Schein. Er soll den Käufer animieren und den Konsumenten attrahieren. Nun will der Markt selbst Aufklärung betreiben und auf globale Mißstände hinweisen, zumindest nach der Absicht des Pulloverproduzenten. Er tut es marktmäßig: Aufmerksamkeit erheischen mit Mitteln, die die Differenz zur Konkurrenz unterstreichen, wobei die Differenz zwischen Markt und sinnstiftenden Institutionen verwischt wird. Das ist schlimm für diese Institutionen. Denn wer soll die Richtung moralischer Vergewisserung bestimmen? Der Markt tut es nicht. Daß Suchtbilder vom schwellend duftenden Körper und von dynamischen Autos weniger unmoralisch sind als Fotos von abgewiesenen Asylsuchenden aus Albanien, fällt nur dem einverstandenen Konsumenten nicht ein. Der Markt selbst war und ist nie moralisch. Er ist ein Verfahren, das man akzeptiert oder auch nicht. Und Fotografien? Da scheint es in unserer bildgläubigen Epoche faßliche und zulässige zu geben und solche, die wir nicht mehr sehen mögen, wenn sie im freien Spiel der Marktkräfte auftauchen. Mit dem Leid macht man keine Geschäfte, als ob die Gesamtheit der Geschäfte das Leid produzieren würde. In den Ikonen der Benetton-Kampagne „ist so viel Wahrheit, daß man erkennt, daß alle Wahrheit gemacht ist“, erklärte Pater Friedhelm Mennekes, der den Kunstsalon St. Peter in Köln betreibt. „Werteverfall, da kann ich nur lachen.“ Angesichts der Intelligenz, mit der Benetton mit seinen Märkten kommuniziert, können die traditionellen Institutionen von Sinnstiftung und Sinnverwaltung nur weinen. Monika Schattenhofer

Nur noch heute in der Orangerie im Berliner Englischen Garten.