Sachte und heftige Tritte

Das „Vilnius Jazzfestival '92“ in Litauen  ■ Von Andreas Becker

Litauen im Oktober: Die Russen liefern kein Öl, keine Heizung funktioniert, der Treibstoff ist knapp. Heizlüfter gibt es nicht, aber gäbe es sie, würden wahrscheinlich sofort die Sicherungen im litauischen Kernkraftwerk (Typ: Tschernobyl) durchgehen. Nicht einmal die 88-Dollar-Zimmer im zwanzigstöckigen ehemaligen Interhotel von Vilnius, heute „Hotel Lietuva“, sind beheizt. Also nehmen wir lieber gleich ein Zimmer für zehn Dollar. Zwar stinkt das Klo ein wenig, aber dafür gibt es eine Farbglotze mit Satellitenanschluß. Wer allerdings das Programm im einzigen internationalen Kanal bestimmt, bleibt im dunkeln: mal läuft MTV, dann plötzlich Pro 7, und nachts um drei dann deutsches Sexfernsehen von RTL oder Sat.1.

Die Menschen in Vilnius (zu deutsch: Wilna) ertragen die Kälte gefaßt. Man sitzt im Mantel oder Pullover im Restaurant, meidet große, zugige Säle und trifft sich möglichst in verrauchten, engen Barräumen. Die Kälte scheint als Preis der Freiheit hingenommen zu werden: besser, als weiterhin von Mächten abhängig zu sein, die noch im Januar 1991 — ein halbes Jahr vor dem Moskauer Putsch — bei der Erstürmung des Fernsehturms vierzehn Zivilisten erschossen.

Seit 1988, dem Jahr, als es in Vilnius zu den ersten großen Demonstrationen gegen die Sowjetherrschaft kam, gibt es das „Vilnius Jazzfestival“. Jazz hat eine besonders starke Tradition in den baltischen Republiken. Während Rock- und Punkkonzerte von den Behörden entweder gleich verboten, später dann geduldet wurden, war Jazz eine staatlich akzeptierte Form der Kunstausübung. Litauische Jazzer wie das Ganelin Trio, der Saxophonist Wladimir Chekasin oder der Schlagzeuger Wladimir Tarasow kamen durch Konzerte und Plattenaufnahmen auch außerhalb der Sowjetunion zu einer gewissen Popularität. Ganelin ist inzwischen nach Israel ausgewandert und hat dort ein neues Trio gegründet, Tarasow und Chekasin reisen in der Welt herum und verdienen sich mit Konzerten die heißbegehrten Devisen. Noch immer ist es in Litauen so, daß die meisten hochwertigen westlichen Konsumgüter nur gegen Dollar verkauft werden. Simple Legosteine kosten im größten Kaufhaus von Vilnius 48 Dollar, ein Brot ein paar Pfennige. Ein Monatslohn beträgt rund dreißig Mark.

Das Vilnius Jazzfestival ist jedes Jahr die Gelegenheit, die bekannteren einheimischen Musiker zwischen ihren Tourneen endlich wieder daheim erleben zu können. Gleichzeitig ist es ein Podium für Nachwuchskräfte der improvisierten Musik aus dem Baltikum und Rußland. Und es ist zu einer renommierten Adresse für Jazzer aus aller Welt geworden. Jazz ist populär in Litauen. Die zumeist jungen Zuschauer sagen einem begeistert, man solle unbedingt auch das Jazzfestival im benachbarten Kaunas besuchen, außerdem ein anderes litauisches Jazzfestival, das nur alle zwei Jahre stattfindet. Wenn man dann schon dabei ist, kann man auch gleich noch die Festivals von Riga und Tallinn im Terminkalender vormerken.

„Vilnius Jazz '92“ findet — wie immer — im Kulturhaus der Handelsgewerkschaft statt, einem mächtigen, von acht schweren Säulen getragenen Gebäude auf einem Berg mitten in der Stadt. Hat man die 109 Stufen zum „Weißen Haus“ von Vilnius erklommen, ist man erst mal abgelenkt von der Aussicht auf die Altstadt mit ihren diversen Kirchen, auf den Fluß Neris und auf die Hochhäuser im Hintergrund, in denen ein Großteil der 600.000 Einwohner lebt. Im Haus dann zunächst ein kreisrundes Foyer. Links die Bar, rechts der bestuhlte Konzertsaal, der etwa 800 Zuschauer faßt.

Zunächst gehen wir in die Bar. Alle rauchen und trinken Wodka, damit es schön warm wird. Siebzehnjährige Mädchen trinken Wodka aus Halbliterflaschen. Die kleinsten Wodkaeinheiten sind halbvolle Saftgläser zum Preis von etwa 10 Pfennig. Einheimisches oder polnisches Bier — zu Preisen, die Litauer bezahlen können —, gibt es nur in sehr begrenzten Mengen. Ausländer sind an Tuborg- und Carlsberg-Dosen zu erkennen, die Halbliterdose zu 250 Talon (umgerechnet 1,60 DM; Talon heißt die provisorische, noch nicht konvertierbare litauische Währung). Für die Einheimischen ist das dänische Festival-Bier, das an besonderen Ständen unter Sonnenschirmen verkauft wird, eine unbezahlbare Luxusware. Der Eintritt zu den Konzertabenden kostet allein 200 Talon — Grund genug für jugendliche Jazzfreaks, die Karten zu fälschen.

Eröffnet wurde das Festival am vergangenen Freitag mit einem Konzert des Trios „Kieloor Entartet“, im Programmheft als Schweizer Wunderkinder angekündigt. Mit ihrer jazzrockigen Mischung schienen sie sich dann aber eher auf glattem Parkett, als, wie sie selber meinen, „zwischen Zappa und Webern“ zu bewegen.

Wesentlich spannender war da schon der Auftritt der ersten litauischen Gruppe des Festivals. Das „Tomas Kutavicius Trio“ hatte sich mit einem Chor aus Schülerinnen und Schülern zusammengetan. Mit Kerzen vor den Gesichtern sangen die Jugendlichen kryptische Choräle. Das Trio improvisierte heftig gegen den Strom des Gesangs, besonders auffällig dabei der Saxophonist Vytas Labutis, seit 1988 einer der Stammgäste bei „Vilnius Jazz“.

Auch am Samstag und Sonntag, als die Konzerte bereits um 15 Uhr begannen, war schnell klar, daß die litauischen Bands nicht umsonst einen besonderen Ruf in der Welt der improvisierten Musik genießen. Vor allem das neue Quartett von Wladimir Chekasin, das er mit dem russischen Saxophonisten Wladimir Tolkachew gegründet hat (mit dem er ansonsten eine Bigband in Nowosibirsk leitet), stellte die Regeln des Jazz, so es noch gültige gibt, auf den Kopf. Das Chekasin Quartett ist weder mit amerikanischen Bands zu vergleichen, die dagegen geglättet und clean wirken, noch mit der europäischen Ausprägung der freien Improvisation, wie sie das Berliner FMP Label repräsentiert und gleichzeitig zementiert. Chekasin und seine drei Kollegen reißen die Statuen des Jazz vom Sockel, als wären sie die Partyband zum Abriß des Lenindenkmals im Vilniuser Stadtpark. Die mehrere Meter große Hand Lenins weist heute an einer Landstraße auf die Bierbar „Tauro Ragas“ hin.

In dem mit Spannung erwarteten dritten Projekt mit litauischer Beteiligung traf Drummer Wladimir Tarasow auf zwei deutsche Musiker. Pianist Hans Schüttler zerquetschte Plastikbecher, ließ eine Blechente über die Bühne watscheln, spielte mit einem Kreisel auf dem Boden und zeigte die Möglichkeiten des Pianoduos mit dem elektronischen Signal eines Weckers. Tarasows poetische Ader war nur für einen Moment zu spüren: Mit der Hand stieß er sachte immer wieder einen Luftballon in die Luft. Je nachdem, wie stark der Aufprall war, gab es dazu einen sachten oder heftigen Tritt gegen die Baßtrommel. Tarasow wurde für Minuten zu Pan Tau.

Eine Enttäuschung dagegen die vielen Soloauftritte. Der Holländer Luc Houtkamp verhedderte sich in der Kommunikation mit seinem viel zu langsamen Computer, der sein verzerrtes Saxophon- Echo so verzögert zurückgab, daß das Publikum jedesmal schnell dazwischen zischen konnte. Beeindruckend versiert, aber gleichzeitig in Routine erstarrt, das Solo des amerikanischen Violinisten Steve Lacy. Nach den Konzerten dann jeweils noch eine Session bis in den frühen Morgen. Am nächsten Tag erzählt Festivalleiter Antanas Gustys, die Musiker hätten zum Schluß auf den Boxentürmen gestanden, ein englischer Saxophonist habe geweint, weil das tanzende Publikum ihn so gerührt habe.

In Vilnius, wo die Kneipen früh schließen, es keine Diskothek gibt und der Jazzclub nur einen Abend in der Woche öffnet, ist das Jazzfestival der Treffpunkt der Jugend und der Studenten. Ihr Hunger nach Jazz scheint fast größer als ihr Durst. Alle erschrecken sichtlich, als der Organisator Antanas nach dem letzten Konzert verkündet, dies sei sein letztes Festival gewesen. Nur für neun Reihen habe er Karten verkauft, obwohl immer alle Plätze besetzt waren. Er sei pleite. Da helfen auch die Sponsoren nicht, deren Reklame auf der Bühne hängt.

Diese im Wodka hingesagten Worte glaubt natürlich keiner. Antanas wird zusammen mit seiner Frau auch im nächsten Jahr das berauschendste Jazzfestival organisieren, das ich je erlebt habe.