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„Wir haben nichts mehr zu verlieren“

Seit Tagen campieren 200 Kranke vor der Parteizentrale der spanischen Sozialisten. Die Olivenölvergiftung von 1981 zerstörte ihr Leben – auf Entschädigungen warten sie bis heute vergeblich  ■ Aus Madrid Antje Bauer

Maria bückt sich mühsam, krempelt den rechten Kniestrumpf herunter, zieht ein Pflaster von der Wade. Darunter kommt eine offene Wunde zum Vorschein. „Diese Wunden habe ich am ganzen Körper. Seit elf Jahren. Sie verheilen nie. Dies hier“, die alte Frau schiebt ein paar schüttere Kopfhaare zur Seite und legt einen roten Knubbel frei, „dies habe ich erst seit ein paar Wochen. Gutartige Geschwüre, sagt der Arzt. Aber er weiß nicht, was er dagegen tun soll.“ Marias Fingergelenke sind verkrümmt und blau verfärbt. „Zweimal am Tag muß ich mir Insulin spritzen“, sagt sie, „ich habe extrem Zucker.“ Auf die Frage nach ihrem Alter beginnt sie, in ihrer Plastikhandtasche nach dem Ausweis zu fischen. „Ich vergesse alles“, murmelt sie bedrückt, „selbst den Geburtstag meines Sohnes weiß ich nicht mehr.“ Maria ist ein Opfer des „sindrome tóxico“, jenes Speiseölsyndroms, an dem vor elf Jahren mehr als 25.000 Menschen in Spanien erkrankten.

Seit Montag vergangener Woche hält die alte Frau zusammen mit weiteren 200 Leidensgenossen die Calle Ferraz im Madrider Stadtzentrum besetzt. Ein Dutzend blauer Campingzelte haben sie auf der Straße errichtet und mit Kartons ausgelegt. Dazwischen sitzen den ganzen Tag lang Grüppchen meist älterer Frauen auf Getränke- und Gemüsekisten und unterhalten sich. Andere haben sich am Straßenrand auf einem Klappstühlchen niedergelassen und in Wolldecken eingewickelt – es ist kalt geworden, seit sie mit der Belagerung begonnen haben. Jenseits der Zelte stehen zwei von der Gemeinde Madrid gestellte Krankenwagen. Einige der Teilnehmer wurden schon ins Krankenhaus gebracht, andere mußten vorzeitig nach Hause. Objekt des Protests ist der Hauptsitz der regierenden Sozialistischen Partei, dreißig Meter von den Zelten entfernt. „PSOE, hilf uns, wie während der Opposition“, fordert ein Transparent, das die Besetzer über die Straße gespannt haben. Doch zwischen Transparent und Parteisitz sind drei Wannen postiert, um die Distanz zu wahren.

Vor elf Jahren brach das Unglück über sie herein. „Es war das Öl“, sagen die Betroffenen. Auch die Gerichte haben so entschieden: Mit Anilin versetztes, eigentlich als Maschinenöl gedachtes Rapsöl, das gewissenlose Geschäftemacher als Olivenöl ausgaben, war die Ursache, daß mehr als 25.000 Patienten innerhalb weniger Tage Spaniens Krankenhäuser überfüllten, daß (nach offiziellen Angaben) 350 Menschen innerhalb kurzer Zeit starben. Anderslautende Theorien, wonach Bayers Pflanzengift Nemacur die Krankheiten ausgelöst hätte oder ein Chemiewaffenunfall auf der US-Basis Torrejon bei Madrid dafür verantwortlich gewesen sei, wurden auf einem Mammutprozeß 1988 als nicht überzeugend ausgeschlossen. Auch die Speiseöltheorie weist Widersprüche auf. Nicht alle, die das Maschinenöl zu sich nahmen, wurden krank. Und nach wie vor wurde der todbringende Stoff nicht nachgewiesen. Vielleicht fielen deshalb die Strafen vergleichsweise milde aus: Nur zwei der 37 Angeklagten wanderten nach dem Urteil ins Gefängnis. Die übrigen hatten ihre Strafe bereits durch die Untersuchungshaft abgesessen. Im April dieses Jahres vervierfachte der Obere Gerichtshof allerdings die Haftstrafen für die Hauptangeklagten. Danach mußten einige ins Gefängnis zurück.

„Wer daran zweifelt, daß es das Öl war, der ist nicht ganz richtig im Kopf“, versichert die Andalusierin Francisca, und die Umstehenden nicken heftig. Francisca stammt aus der Olivenstadt Jaen und lebt seit Jahren in Madrid. „Ich habe mein Olivenöl immer in Jaen gekauft“, erinnert sie sich. „Aber einmal ist es mir ausgegangen, und da habe ich auf dem Flohmarkt einen Stand gesehen, da verkauften sie billig Olivenöl aus Jaen. Zumindest stand das so drauf. Das habe ich gekauft. Und damit habe ich meine Familie vergiftet. Mein Sohn und ich, wir haben uns damals in der Küche auf den kühlen Fußboden gelegt, um die Schmerzen zu lindern. Wir wußten nicht mehr wohin.“

Die höheren Haftstrafen, die im Revisionsverfahren verhängt wurden, haben die Opfer zwar mit Genugtuung aufgenommen, aber: „Nützen tut uns das überhaupt nichts“, beklagt sich Francisca. „Dadurch haben wir keine Pesete zusätzlich in der Tasche!“ Die Ölpanscher sind zwar zu hohen Zahlungen verurteilt worden, doch nur wenige Familien haben bislang Entschädigung erhalten. Ein Prozeß der Betroffenen, mit dem sie erreichen wollten, daß sich der Staat an Stelle der verurteilten Ölpfuscher für die Schäden haftbar erklärt, zieht sich seit Jahren ohne Ergebnis hin. Auch verschiedene Protestaktionen der Kranken sind erfolglos geblieben. „Wenn sie uns schon die Gesundheit nicht zurückgeben können, dann wollen wir wenigsten ein bißchen besser leben als jetzt. Statt dessen entziehen sie uns das Recht auf Rehabilitation und Heilgymnastik und zahlen die Psychologen nicht mehr. Wir sind chronisch krank, sagen sie. Na und? Heißt das vielleicht, daß man uns sterben lassen darf?“ fragt Francisca empört. 43 ist sie. „Aber mit 32 bin ich alt geworden.“

Jede hier weiß von Arztgängen zu erzählen, bei denen ihnen jede Hoffnung genommen wurde. „Viele Ärzte bemühen sich, aber sie wissen nicht, was sie uns verschreiben sollen. Normale Pillen helfen häufig nicht, und auch die Untersuchungen ergeben oft widersprüchliche Daten. Das Gift sitzt im Blut“, klagt die junge Patricia, deren Mutter schwer krank ist.

Wie viele Opfer das Gift gefordert hat, darüber gehen die Schätzungen auseinander. 25.000 Kranke und 320 Tote sind es nach offiziellen Angaben. Die Vereinigung der Opfer hingegen beziffert die Zahl der Kranken auf über 35.000, die der Toten auf mehr als 1.000. „Die Ärzte erklären unsere Symptome oft nicht mit dem Speiseölsyndrom, sondern mit einer normalen Krankheit“, erklärt Francisca, „damit halten sie die Statistik niedrig.“ Das ist möglich, weil sich das Gift bei jedem anders und zu einem anderen Zeitpunkt bemerkbar macht. „Ein paar Monate lang kann es einem mal relativ gut gehen. Aber danach kannst du sicher sein, daß irgend etwas Neues ausbricht“, versichert Maria Ramos, eine Hausfrau aus Madrid. „Man hat nie seine Ruhe.“ Ihre vierköpfige Familie wurde vor elf Jahren geschlossen ins Krankenhaus eingewiesen. Ihrem Sohn, der geheilt schien, wurde vor kurzem ein Leberschaden diagnostiziert. Die Tochter ist seit damals nervenkrank. „Nachts geht es bei mir im Hausflur zu wie auf einer U-Bahn- Station, weil keiner von uns ein Auge zudrücken kann“, klagt Maria. Früher war sie Putzfrau und Büglerin. „Heute kann ich nicht mal meinen eigenen Haushalt besorgen.“ Eine alte Frau neben ihr fällt ihr ins Wort: „Bei mir geht es genauso. Meine Tochter, sie war damals siebzehn, hat's seither mit den Nerven. Beim geringsten Anlaß ißt sie nichts mehr und läuft wie ein Irre durchs Haus und drückt sich die Hand aufs Herz: ,Mama, Mama, was hab' ich denn, das tut so weh‘ – es ist ein Jammer.“

Das Giftöl hat sich seine Opfer unter den ärmsten Schichten der Bevölkerung ausgesucht – die Reicheren kaufen ihr Öl nicht auf dem Flohmarkt. Die meisten Familien müssen seither sehen, wie sie ihre kranken, häufig arbeitsunfähigen Verwandten mitversorgen. „Mein Mann ist seit damals auf andere angewiesen“, klagt eine ältere Frau. „Bevor ich hierher kam, mußte ich ihn waschen. Mein Sohn hat ihn dann angezogen. Und jetzt muß ich gleich wieder weg, um ihm Essen zu machen. Und mein Sohn – ach, davon will ich gar nicht reden –, die Sorge um meinen Sohn wird mich noch ins Grab bringen.“

40.000 Peseten, umgerechnet 600 Mark Sozialhilfe monatlich bekommen diejenigen Opfer, die offiziell als Giftölopfer anerkannt wurden. Mit ihren Leiden müssen die meisten inzwischen zum Hausarzt – die Krankenkasse bezahlt keine Spezialisten mehr. Es sind vor allem Frauen, die hier in Ferraz campieren. Seit elf Jahren leben sie mit finanziellen Schwierigkeiten, mit Überbelastung, mit der Sorge um die Folgen der tückischen Krankheit. „Wir sind stärker und kämpferischer als die Männer“, erklärt eine von ihnen. Doch aus jeder Stimme klingt die Bitterkeit, die Wut, die Trauer darüber, daß ihr Leben zerstört wurde. Sie fühlen sich alleingelassen.

„Als sie noch in der Opposition waren, hat die PSOE uns unterstützt. Aber jetzt wollen die Sozialisten nichts mehr von uns wissen. Sag mal Felipe (González, der Regierungschef), daß er erst die Sachen zu Hause in Ordnung bringen soll, bevor er zum Begräbnis von Willy Brandt fährt“, fordert Maria Ramos. Sie sitzt mit den anderen unter einer blauen Zeltplane, denn es regnet. Nachts kauern sie sich auf Pappkartons in Hauseingängen. Wer Glück hat, ergattert einen Platz in einem der Zelte oder in einem Auto. Die Nachbarn haben Mitleid mit den ungewohnten Obdachlosen. Lassen nachts die Hauseingänge offen, bringen Kannen voller Kaffee. Die anliegenden Kneipen stellen den Kranken ihre Toiletten zur Verfügung. „Wir gehen hier nicht weg, bis die PSOE mit uns redet“, versichert Francisca energisch. „Wir haben nichts zu verlieren. Wir sind krank bis an unser Lebensende. Und wir verlangen jetzt hier unser Recht.“

Die Sozialistische Partei ließ verlauten, sie sei erst zu Gesprächen bereit, wenn die Kranken ihre Belagerung aufgegeben hätten. Doch die mißtrauen den Versprechungen der Sozialisten. „Wenn wir hier weggehen, reden sie erst recht nicht mit uns“, davon ist Francisca überzeugt. Seit acht Tagen leben sie nun auf dem Asphalt der Calle Ferraz in Madrid. Die Presse veröffentlicht ab und zu ein obligates Artikelchen. Das Fernsehen findet das ferne Jugoslawien wichtiger. Die sozialistischen Minister sind nach Sevilla gereist, zur Schließung der Weltausstellung. Und auf den Straßen der Madrider Altstadt wird immer noch gelegentlich Speiseöl angeboten. Olivenöl, ganz billig. Garantiert aus Jaen.

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