■ Die Asyldebatte lenkt vom Eigentlichen ab — Plädoyer für eine komplexe Einwanderungspolitik
: Republik und Staatsbürgerschaft

Seit es die Bundesrepublik gibt, gibt es auch die, die sie stets am Rande eines neuen Faschismus sehen. Oft haben diese Warner vom Dienst genervt, vor allem dadurch, daß ihnen die faktische Zivilisierung des Westens Deutschlands der Beachtung nicht wert war. Ohn' Unterlaß haben sie, mit heiserer Stimme, von Rednertribünen und Ladeflächen von Lastwagen herab das drohende Menetekel beschworen. Doch die Republik ging ihren Weg, und es war angenehm, mit den „5 vor '33“-Rhetorikern nicht viel zu tun haben zu müssen.

Mir ist die Gesellschaft dieser Leute zuwider – doch ich räume ein, daß die deutsche Entwicklung der letzten Monate ihnen die Argumente und Beispiele frei Haus liefert. Das demokratische Eis war doch dünner, als die Freunde der Bundes-Republik angenommen hatten. Die CDU – entgegen einem verbreiteten Vorurteil bislang gerade keine populistische Partei – hat Hoyerswerda und Rostock- Lichtenhagen zum Anlaß genommen, eine autoritäre und in Ansätzen auch schon antiwestliche Rückentwicklung einzuleiten. Und auch die SPD – ohnehin viel zu oft geneigt, dem „Volk“ zu Willen zu sein – hat die Contenance fallen gelassen und der Asyl-Phobie halb indirekt, halb direkt recht gegeben. Es ist bei ihr immer das gleiche Spiel: Erst wird ein Problem, das Prinzipienfestigkeit und Pragmatismus erfordert, bis Ultimo ideologisiert (etwa Artikel 16 = Kernstück sozialdemokratischer „Identität“) – nach Ultimo fällt der Verein dann fast geschlossen um und stolpert den Scharfmachern und den Brandstiftern, die ihnen den Weg bereiten, hinterher.

Alle rufen sie nach dem stärkeren Staat – tatsächlich aber hat die politische Klasse ein Gutteil von Kompetenz abgegeben: mühelos treiben die Brandstifter die politische Klasse vor sich her. Man bedenke: große Teile der politischen Klasse sind weit plebiszitärer gestimmt, als an den Runden Tischen oft vermutet wurde. Sie denken gar nicht daran, das zu tun, was in einer vermittelten parlamentarischen Demokratie selbstverständlich sein müßte: sich zu weigern, unter dem Druck von Stimmungen und Populismus Entscheidungen zu treffen. Es gibt außer Hans-Jochen Vogel, Ignatz Bubis und einigen anderen kaum noch Politiker, die leidenschaftlich für die Autonomie der Politik eintreten und das so entscheidende Recht in Anspruch nehmen, Politik in strikter Distanz zu – rechten wie linken – Stammtischen zu betreiben.

Jeder weiß, daß es gar nicht um das Institut des Asyls geht. Es war vielmehr die deutsch-deutsche Vereinigung mit ihren Folgen sowie die Einigung Europas, die die politische Klasse aus der Bahn geworfen hat. Diese erste große Probe auf die Standfestigkeit der Republik hat das politische Personal nicht bestanden. Statt parteiübergreifend einzuräumen, daß sie die Probleme völlig verkannt hat, beteiligt sie sich bereitwillig an dem asylpolitischen Ablenkungsmanöver. Viele ihrer Angehörigen wissen vermutlich, auf was sie sich einlassen – und doch tun sie es in der törichten und der Demokratie gegenüber gleichgültigen Hoffnung, damit über die Runden zu kommen. Der neue, den „Republikanern“ gegenüber halbwegs offene Autoritarismus der CDU und der neue national-soziale Impetus der SPD sind nur zwei Seiten der gleichen Medaille: Regierung und Opposition danken gleichermaßen ab.

All das scheint denen Recht zu geben, die Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes wie ein Heiligtum verteidigen, dessen Änderung nur ein Signal für eine allgmeine Rückentwicklung der Demokratie sein könne. In einem haben sie recht: ein demokratischer Staat kann es sich grundsätzlich nicht leisten, in so wichtigen und prekären Fragen wie Asyl und Einwanderung unter populistischem Druck zu handeln. Da die gesamte aktuelle Debatte jedoch unter diesem Druck stattfindet, ist — gemessen daran – der bisherige Status quo immer noch besser.

Dennoch begibt man sich mit der Ideologisierung von Artikel 16 in eine Falle. Denn das läuft auf die Wiederaufführung eines alten und, wie ich immer noch denke, überholten Stückes hinaus: auf den Titanenkampf zwischen Populisten und Antifaschisten. Dessen größter Nachteil besteht darin, daß die Gesellschaft in ihm überhaupt nicht vorkommt. Die Populisten rennen der Chimäre nach, daß Deutschland grosso modo den Deutschen gehören müsse. Und die Antifas verteidigen im Grunde nicht die Republik (deren rechtsstaatliches Regelwerk sie oft genug für eine unerklärliche glückliche Fügung halten, die nur gegen die Mehrheit der Deutschen über die Runden zu retten sei), sondern um ein Prinzip. Der Artikel 16 interessiert sie nur insofern, als er in ihren Augen einen antifaschistischen Stachel darstellt.

Dadurch gerät das aus dem Auge, worum es eigentlich ja geht: der Alltag der faktischen multikulturellen Gesellschaft, der Alltag der Einwanderungsgesellschaft. Wer nur vom Artikel 16 spricht, verbleibt — was den Rechten durchaus zupaß kommt — im Bereich des Anomalen, des Besonderen. Denn selbst dann, wenn eine Gesellschaft die Aufnahme von Flüchtlingen für eine moralische Selbstverständlichkeit hält, wird sie doch immer davon ausgehen, daß diese Zuwanderung — so kontinuierlich sie auch sein mag — die Folge von Krisen und Störungen ist. Es genügt aber nicht, nur für die Akzeptanz der Ausnahme zu kämpfen, auch dann nicht, wenn sie vorerst die Regel sein wird.

Auch hier neigen die Antifaschisten dazu, die Brücke zu den Interessen abzubrechen. In der Frage des Asyls geht es um die notwendige Selbstverpflichtung der Gesellschaft zur Generosität, und hier haben Interessen nichts zu suchen. Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn man die große andere Seite der Zuwanderung – also die Tatsache, daß die Bundesrepublik insgesamt zu ihrem Vorteil seit Jahrzehnten eine Einwanderungsgesellschaft ist – in den Mittelpunkt stellt. Hier kommen Interessen ins Spiel, die man gegen Ideologien und Ängste anführen kann. Und hier kann man, vielleicht, eine Mehrheit davon überzeugen, daß sie sich selbst schadet, und, in einem sehr umfassenden Sinne, ihre Lebensqualität mindert, wenn sie Deutschland den Deutschen reservieren will.

Sicher, es ist angesichts der schamlosen Ideologisierung der Asylfrage, die die politische Klasse hat durchgehen lassen, schwer, komplexere Vorschläge ins Gespräch zu bringen. Aber es führt nichts daran vorbei. Denn es geht, wie die Parolen etwa in Rostock- Lichtenhagen gezeigt haben, nicht ums Asyl, sondern um Ausländer ganz allgemein. Dagegen muß mobilisiert werden, dagegen muß das liberale Selbstverständnis dieser Gesellschaft artikuliert werden — gerade auch das der Wirtschaft, die ganz anders als 1932, nicht mehr chauvinistisch und deutsch-national ist.

Es mag sein, daß es für das notwendige asylpolitische Moratorium zu spät ist. Um so dringender ist dann, endlich das ganze Problem zu thematisieren und immer wieder zu zeigen, daß Einzellösungen nichts bewirken können, sondern, im Gegenteil, den Problemdruck noch erhöhen werden. Die Bundesrepublik muß gerade jetzt dazu gebracht werden, ihren dementierenden Umgang mit der Wirklichkeit einzustellen. Sie muß höchst offiziell (und mit den entsprechenden institutionellen Konsequenzen) anerkennen, daß sie eine Einwanderungsgesellschaft ist, bleiben wird und das auch dringend braucht. Wäre dies anerkannt, würde das, so ist zu hoffen, die gefährliche Diskussion um das Asyl sichtbar entlasten.

Jeder Staat braucht Regeln der Ein- und Ausschließung. Asylbewerber sind Opfer, sie werden aus humanitären Gründen aufgenommen. Bürger können sie werden, sind es aber erst einmal nicht. Daher lenkt die Nur-Asyldebatte vom eigentlichen Thema ab: von der Staatsbürgerschaft. Noch immer wird Staatsbürgerschaft in Deutschland letztlich völkisch definiert. Hier liegt der Skandal. Dagegen müssen die Anhänger der Republik – dieser Republik – Sturm laufen. Thomas Schmid

Autor, mit Daniel Cohn-Bendit Verfasser des gerade erschienenen „Heimat Babylon – Das Wagnis der multikulturellen Gesellschaft“ (Hoffmann und Campe)