Ohne Abi an die Uni

■ Seit diesem Wintersemester dürfen sich erstmals Nichtabiturienten an Hamburgs Hochschulen um einen Studienplatz bewerben / Kaum jemand weiß davon / Erfolgreiches Modell in Niedersachsen

Die Hamburger Hochschul-Revolution vollzog sich in aller Stille. Zum ersten Mal durften sich in diesem Herbst Menschen ohne Abitur um einen Studienplatz an einer der insgesamt sechs hanseatischen Akademikerschmieden bewerben. Daß die Öffentlichkeit davon kaum etwas bemerkte, war kein Zufall. Keine der Hochschulen öffnete mit Begeisterung ihre Pforten für berufserfahrene StudentInnen.

Die Klage lautete unisono: Die bestehende Überlastung lasse die Lust und die Kapazitäten für Reformen auf den Nullpunkt sinken. So brauchte das bürokratische Räderwerk von Hochschulen und Wissenschaftsbehörde ganze anderthalb Jahre, um schnaufend und stöhnend die im Sommer '91 im Hamburger Hochschulgesetz neu verankerte Regelung zu realisieren.

Doch als dann vor sechs Wochen endlich der Startschuß fiel, blieb keine Zeit mehr für Public Relation. Die Folge: InteressentInnen erfuhren — wenn überhaupt — erst kurz vor dem Bewerbungsschluß am 15. Oktober von der Möglichkeit zum Studium ohne Abi. Entsprechend wenige Bewerbungen trudelten bei den Hochschulen ein. Sinnigerweise besteht bei den meisten Hamburger Hochschulen erst nächstes Jahr im Oktober wieder Gelegenheit, als Nichtabiturient in die Welt der Wissenschaft vorzudringen. Nur die Technische Universität Harburg hat ihren Bewerbungsschluß auf den 1.April gelegt. Dort sind Anmeldungen also noch möglich. Studienbeginn ist im Wintersemester. An den anderen Hochschulen erfolgt die Zulassung zum Sommersemester.

Bleibt zu hoffen, daß es sich nur um eine Kinderkrankheit und kein chronisches Leiden der längst fälligen Liberalisierung des hanseatischen Bildungswesens handelt. Denn Studierfähigkeit, darüber sind sich viele Experten einig, wird nicht allein über den Königsweg „gymnasiale Oberstufe“ erworben. In Hamburgs Nachbarbundesland Niedersachsen beispielsweise haben Berufstätige schon seit über 20 Jahren die Möglichkeit, sich nach bestandener Eingangsprüfung in den Schoß der Alma mater zu begeben. Die Erfahrungen, die dort mit den berufserfahrenen StudentInnen gemacht wurden, sind sehr positiv, wie eine Studie im Auftrag des Bundesbildungsminsteriums belegt.

Danach sind über 70 Prozent dieser „reiferen“ StudentInnen beruflich hoch qualifiziert. Erstaunlich groß ist der Anteil an Frauen. 52 Prozent derjenigen, die die Zulassungsprüfung für ein Studium ohne Abitur ablegen, sind weiblichen Geschlechts. Hauptgrund für den Frauen-Ansturm: verpaßte Bildungschancen. Sei es, weil die Eltern der Tochter mit Blick auf ihr späteres Hausfrauendasein eine weniger gute Ausbildung zukommen ließen oder sei es durch frühe Mutterschaft. Die Noten der Nicht- AbiturientInnen sind im Schnitt genauso gut, teilweise sogar besser als die ihrer Kommilitonen mit Gymnasiallaufbahn. Ihr Studienverhalten ist meist stabiler als das der AbiturientInnen.

15000 Studenten ohne Abi in Niedersachsen

Neben Niedersachsen bieten auch Nordrhein-Westfalen, Bremen, Berlin und das Saarland den „dritten Bildungsweg“ schon längere Zeit an. Schleswig-Holstein und Hamburg zogen erst kürzlich nach. Die Elbmetropole kann sich allerdings eines einzigartigen Modellversuchs auf diesem Sektor rühmen: der Hochschule für Wirtschaft und Politik, die bereits seit 1948 Menschen ohne Abitur ein Studium ermöglicht. Beide Nachzügler haben ihre Hochschulen sehr weit geöffnet. Nichtabiturienten erhalten dort Zutritt zu allen Akademikerschmieden. Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Hessen beschränken dagegen den Zugang nur auf die Fachhochschulen.

1In den fünf neuen Bundesländern sind Regelungen in Arbeit. Einzig die Bayern sperren sich gegen die Hochschul-Öffnung.

Die Niedersachsen können derzeit das erfolgreichste Modell vorweisen. 15000 Menschen ohne Abitur nahmen dort in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ein Studium auf. Das Rezept: Man nehme eine Eingangsprüfung, bestehend aus einem allgemeinen und einem studienfachbezogenen Teil, und sorge für eine flächendeckende Einrichtung von Vorbereitungskursen zum Beispiel bei den Volkshochschulen. Gerade dieser intensive Vorlauf gebe den berufserfahrenen Studenten die nötige Sicherheit für das anschließende Studium, meint Swantje Hank, Referentin beim Bildungsministerium in Hannover. Die Durchfallquote bei den Prüfungen beträgt indes um die 30 Prozent.

Auch in Hamburg werden sich die BewerberInnen einer Eingangsprüfung unterziehen müssen, sofern sie nicht einen Meisterbrief oder eine ähnliche hohe Qualifikation vorweisen können. Letzere brauchen nur ein Beratungsgespräch zu absolvieren. Vorbereitungskurse für die Prüfung gibt es in der Elbmetropole derzeit noch nicht. Unter Beweis gestellt werden sollen per Klausur und mündlichem Test Denk- und Urteilsfähigkeit und Verständnis für wissenschaftliche Fragestellungen, insbesondere im Zusammenhang mit

1dem gewählten Studienfach. Ferner werden ausreichende deutsche Sprachkenntnisse und Allgemeinwissen getestet.

Bewerben kann sich, wer mindestens 24 Jahre alt ist und eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine vierjährige berufliche Tätigkeit nachweist. Auf die berufliche Tätigkeit werden bis zu zwei Jahre Familienarbeit angerechnet.

Zugang nach Prüfung oder Beratungsgespräch

Zudem müssen BewerberInnen mindestens drei Jahre ihren ersten Wohnsitz in Hamburg haben oder seit mindestens zwei Jahren in der Elbmetropole beruflich tätig sein.

Die Bewerbungen müssen direkt an die Hochschule der Wahl gerichtet werden (Anschriften siehe Serviceteil). Bewerbungsschluß ist künftig der 1.Oktober. Ausnahmen: Die TU-Harburg (1.April) und einzelne Studiengänge an der Uni, zum Beispiel Informatik. Auch die Hochschule für Wirtschaft und Politik bildet eine Ausnahme: Da diese bereits Nichtabiturienten über ein Prüfungsverfahren aufnimmt, wurden dort nur die Beratungsgepräche für Meister und Fachwirte neu eingeführt. Bewerbungsschluß ist der 1.Oktober. Grundsätzlich stehen alle Studiengänge offen, nur Medizin und Pharmazie bleiben für Abiturienten reserviert. Sigrun Nickel