»Nach Rostock? Jetzt erst recht!«

Warum sollten Studenten und Forscher an die Ost-Unis gehen? Was kann Wissenschaft dort bewirken? Der  ■ Hamburger Philosoph H. Hastedt

, Professor in Rostock, gibt Antworten

Kleine Lerngruppen statt überfüllter Seminare, fast intime Überschaubarkeit statt Untergang des einzelnen in der Masse, Aufbruchstimmung statt Stagnation — welche Hamburger StudentInnen und WissenschaftlerInnen würden sich nicht solche Lehr- und Lernbedingungen wünschen? Nur rund 200 Kilometer entfernt, im mecklenburgischen Rostock, werden solche Wessi-Träumereien wahr. Dort befindet sich eine Universität, die ein neues Kapitel in ihrer mittlerweile 570jährigen Geschichte aufschlägt. Drei Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Hochschulangehörigen dabei, ihrer Uni ein anderes Gesicht zu geben. Hamburger WissenschaftlerInnen leisten Starthilfe. Enge Verbindungen bestehen beispielsweise in den Disziplinen Jura und Germanistik.

An westdeutschen Unis ist viel schiefgelaufen

Helfen wollen alle gerne, zumal ab und an Gehaltszulagen das Ost-Engagement versüßen und die ForscherInnen ihr gemachtes Hamburger Nest nur tageweise verlassen müssen. Doch in Rostock leben? Da schütteln die meisten den Kopf. Und seit der 250000 Einwohner große Ostseehafen nach den Ausschreitungen im Sommer dieses Jahres als Sinnbild für Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus steht, will schon gar keiner mehr dorthin. Auch die StudentInnen nicht. Die sozialen Probleme der Menschen in der Ex- DDR, eine gewisse Fremdheit gegenüber den ostdeutschen Denk- und Lebensweisen und schlechte Wohnverhältnisse schrecken ab. Selbst die ostdeutschen StudentInnen drängen gen Westen, in der Hoffnung auf eine modernere Ausbildung und ein anregendes Leben.

Was bringt einen jungen Wissenschaftler dazu, gegen diesen Strom zu schwimmen und trotzdem nach Rostock zu wechseln? Die taz sprach mit dem Hamburger Philosophen Heiner Hastedt, der in diesem Wintersemester zusammen mit zunächst drei weiteren KollegInnen aus dem Westen mit dem Aufbau des philosophischen Instituts an der Uni Rostock beginnt. Das Mini- Institut wird völlig neu eingerichtet und muß sich erst langsam etablieren. Für den 34jährigen, der sich in seiner Habilitation mit einer Ethik der Technik auseinandergesetzt hat, ist es nach einer Gastprofessur in Ulm die erste Dauerprofessur.

taz: Wegen der Krawalle gegen Asylbewerber in Rostock hat der ehemalige Rektor der Wirtschaftsuni Wien, Hans R. Hansen, seinen Ruf an die TU Dresden abgelehnt. Tenor seiner in den Medien vielbeachteten Begründung: Der gebürtige Baden-Württemberger wolle nicht in ein Land zurückkehren, in dem Rechtsradikale unter Applaus der Bevölkerung Gewalttaten verübten. Sind Sie ebenfalls ins Grübeln gekommen, ob Sie bei ihrem Entschluß bleiben sollen, nach Rostock zu wechseln?

Hastedt: Mich hat die Stellungnahme von Hansen geärgert. Ich hatte beim Lesen des Interviews in der „Zeit“ den Eindruck, daß Hansen seine persönlichen Gründe zu politischen ausstaffiert. Natürlich haben die Ausschreitungen im August auch mich ins Grübeln gebracht. Doch letztlich habe ich mir gesagt: Jetzt erst recht. Mich reizt die Situation des Neuaufbaus. Die Universität Rostock bietet dafür gute Voraussetzungen. Immerhin war sie die erste Universität in der ehemaligen DDR, die aus eigener Kraft einen Reformprozeß eingeleitet hat. Wer sich als Westler zu fein ist, in den Osten zu gehen, verschärft durch diese Abschottungsmentalität das aggressive Klima und verschließt die Augen vor den aktuellen Problemen in der Bundesrepublik. Er ignoriert die Veränderungen, die sich durch den Zusammenschluß von Ost- und Westdeutschland ergeben haben.

taz: Welche Herausforderungen reizen Sie?

Hastedt: Ich glaube, daß es völlig neue Möglichkeiten für Wissenschaftler in der ostdeutschen Aufbausituation gibt. Im westdeutschen Wissenschaftsbetrieb läuft so ziemlich alles schief, was schieflaufen kann. Damit meine ich hauptsächlich die katastrophale Vernachlässigung der Studentenausbildung, in der kaum noch ein Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden stattfindet, sowie Fehlakzentuierungen in der Forschung. Forschung wird immer überspezialisierter. Als Wissenschaftler muß man sich heute eine Sondernische suchen, in der einem niemand das Profil streitig machen kann. Dabei tritt der Rückbezug von Wissenschaft auf das „normale“ Leben mehr und mehr in den Hintergrund, der Gesamtzusammenhang geht verloren. In Rostock besteht die Chance, ungehindert von verkrusteten Strukturen diese Fehlentwicklungen zu korrigieren und Gegenmodelle zu entwickeln.

taz: Wie wollen Sie selber die Brücke schlagen zwischen Wissenschaft und der Lebenssituation etli-

cher Rostocker, die geprägt ist durch Perspektivlosigkeit und einem mit Ausländerhaß gepaarten radikalen Nationalismus?

Hastedt: In Rostock gibt es eine Tradition „Universität für die Stadt“. Ich plane in diesem Rahmen eine öffentliche Vorlesungsreihe zum Thema „Gerechtigkeit“. Darin sollen die Ansprüche der Ostdeutschen auf ein Leben nach ihren eigenen Wünschen ebenso wie ihr Verhältnis zu Ausländern zur Sprache kommen. Trotzdem: Auch wenn sich Wissenschaft in die aktuelle Diskussion mehr einmischen sollte, bleibt sie doch eine Reflexionstätigkeit. Das ist wichtig und richtig, wie gerade das Beispiel der Disziplin „Philosophie“ zu DDR-Zeiten deutlich macht. Damals wurde sie für die Legitimation der bestehenden Machtverhältnisse instrumentalisiert. Solche Abhängkeiten zwischen Forschung und Politik beziehungsweise Praxis darf es nicht geben. Genau dazu ist aber ein Abstand zum Alltäglichen notwendig.

taz: Kann man Hamburger Stu-

dierenden angesichts der Probleme in der Stadt und dem Gewalt-Klima denn überhaupt empfehlen, nach Rostock zu ziehen?

Hastedt: Gewalt gibt es nicht nur in Rostock. Wenn es in Mümmelmannsberg zu Krawallen käme, zöge niemand gleich die Sicherheit und die Attraktivität des Studienortes Hamburg in Zweifel. Da muß man mal auf dem Teppich bleiben. Natürlich werden diese Ereignisse in Diskussionen und Seminaren eine Rolle spielen. Spannend ist, daß verbale Auseinandersetzungen in Ostdeutschland wirklich noch etwas bedeuten, d.h zu konkreten Änderungen führen können. In Westdeutschland beobachte ich seit geraumer Zeit die Tendenz zu intellektuellen Spiegelfechtereien, die nichts weiter als Stürme im Wasserglas sind. In einer wichtigen historischen Phase in der Ex-DDR dabei zu sein, die Umbrüche unmittelbar zu erleben und vielleicht sogar an Lösungen mitzuarbeiten, müßte für Studierende doch reizvoll sein. Text und Fragen: Sigrun Nickel