Wand und Boden
: Wirre Strukturen unter weißer Rauhfaser versteckt

■ Kunst in Berlin jetzt: Wacher, Schneller, Schöner und gestohlene Objekte der documenta IX

Von einer Gruppenausstellung kann eigentlich nicht die Rede sein, und auch thematisch haben die im Gehag-Forum präsentierten Arbeiten nur den Oberbegriff ihrer Form gemeinsam: Skulpturen. Jedem Künstler ist ein Stockwerk von der Wohnungsbaugesellschaft zur Verfügung gestellt worden, Gisela Gradwohl hat mit der Empfangshalle vorlieb genommen. Dort stehen Holzfiguren steif in kettengesägter Melancholie. Gradwohl präsentiert Menschen grob in Holz und gipst dann im nächsten Schritt allerlei verlebendigende Nuancen über das Anlitz des behauenen Klotzes. Die Überformungen tragen dabei vielfach Züge des Zufälligen, die Koteletten eines Skins sind nur mit Bleistift angedeutet, aber nicht ausgefeilt worden. Stellenweise tritt die Verwandtschaft mit afrikanischer Plastik zutage, wenn auch eher parodistisch wie der dickliche Typ eines modernen Ritter Kunibert, dessen nackte Starre weit hinter den dynamischen Menschenbildern des documenta-Künstlers Ousmane Sow zurückbleibt. Mehr der Zukunft wendet sich Roland Stratmann mit seinen „Mixed Media“-Objekten zu. Seltsam strukturierte Bildnegative werden spielerisch in ausgepolsterte Straßenlampenschirme eingepaßt. In silber bedruckten Serien zeichnet sich das undeutbare Motiv in der Wiederholung als Ornament ab, einem mysteriös erscheinenden Filmstreifen ähnlich.

Die Objekte von Ulrich Fleig wirken etwas verloren, wenn man sich bis ins oberste Stockwerk vorwagt. Zu sehr in exhibitionistischer Strenge aufgestellt, stimmen sie eher skeptisch. Die expressive Oberflächengestaltung mag kaum mit der Geziertheit ihrer Präsentation zusammengehen, der Sprung von archaischer Landschaft zum amorphen Schatzkästlein bleibt zumindest gewagt.

Bis 27.11., Mecklenburgische Straße 57, Mo.-Fr. 10-16 Uhr.

Weniger zaghaft gehen Christian Hückstädt und Karsten Konrad mit ihren Zeichenobjekten um, die noch bis zum 24.10. in der Galerie Weißer Elefant zu sehen sind. Hückstädt fügt Fragmente aus der Comicwelt zu wahnwitzigen Ornamenten zusammen, Konrad zersetzt Schriftbilder. Wörter wie FUCK, PISS oder SHIT bilden dabei auf den ersten Blick unentzifferbare Reliefs, deren Lesbarkeit zusätzlich durch die Angleichung an Farbe und Oberflächenbeschaffenheit der Galeriewände erschwert wird. Wirre Stukkatur, unter weißer Rauhfaser versteckt, aber einer deutlichen Sprache entliehen. Als wollten sublime und subliminale Wahrnehmung dem Besucher einen Streich spielen, überlagert der Charakter der Erscheinung den Kraftausdruck. Die in der Alltagssprache verschwindende Kraft der Wörter holt ihren Gehalt wieder ein. Dem Wechselspiel scheint der trockene Humor eines Wandobjektes Rechnung zu tragen. Mit einem aus Plastikbuchstaben auf ein Waschbecken montierten „Danke“ verabschiedet sich Karsten Konrad vom ready-made – ganz in Weiß, versteht sich.

Bei Hückstädt spielen Versatzstücke aus dem Reich des Zeichentrickfilms verrückt. Nach Malschablonen der „Tom & Jerry“-Cartoons hat er schmuckvolle Laubsägearbeiten hergestellt. Aber die Dinge sind ihm dabei aus der Kontrolle geraten. Wild stülpen sich Sandwiches, Zahnbürsten, herausgestreckte Zungen und angsterfüllte Augen ineinander. Das Kinderzimmerutensil als Splatterdetail. Das rasante Flottieren der Zeichen aus der Comicwelt wird von Hückstädt in einer stillgestellten Rotationsbewegung überboten: „Ohne Aussicht auf Dauer zerdehnten sich die Körper, seidenweich beschleunigt, zu einem dicken Dankeschön. Doch wir waren wacher, schneller, schöner.“ Lewis Carroll hätte seine wahre Freude an dieser verdrehten Welt gehabt.

Almstadtstraße 11, Di.-Fr. 11-19, Sa. 15-18 Uhr.

Die Macher der UNWAHR- Galerie haben das philosophische Glaubensbekenntnis der documenta IX vom allgegenwärtigen „displacement“ in die Tat umgesetzt und Teile der ehrwürdigen Exponate aus Kassel geklaut, um sie in der Kleinen Hamburger Straße 16 dem benannten Zweck zuzuführen: einer Ortsveränderung. Mit dem gewohnten Pathos des Underground wollen sie nun den doppelten Verlust präsentieren: „Ist Kunst teilbar? Braucht Kunst den Künstler?“

Und braucht Kunst den Ersatz? Die Bilderstürmer jedenfalls haben nicht einfach eherne Kunst aus der geweihten Kasseler Museumserde exhumiert, sondern weltlich-schnöde Platzhalter an deren Stelle zurückgelassen, wie zum Beispiel der Grasboden von KeunByung Yook: „22.8., 4.33-4.50 Uhr, am frühen Morgen endet der erste Arbeitsbesuch des UNWAHR-Teams an der documenta IX mit Spatenstichen. Nach dem letzten Durchgang des Wachschutzes wird der zuvor aus dem nahegelgeneen BUGA-Gelände entnommene Rasen im Austausch gegen Originalrasen, der Teil des Kunstwerks von Yook war, eingepflanzt“, so der dem künstlichen Mutterboden beigefügte Kommentar der Nacht-und-Nebel-Aktionisten. Ähnlich sind sie mit einem Gummiring aus dem Fundus der Arbeit von Ulrich Meister verfahren, oder haben das Geschirr aus der Toilettenküche von Ilya Kabakov gegen wertlose Replikate aus dem Kaufhaus ausgetauscht. Original und Fälschung haben sich während der 100 Tage des Kunstfestivals vermischt, die „displacement“-Exponate können es bezeugen. Die Echtheit der Fälschungen kann indes niemand mehr überprüfen. Die documenta wurde letzte Woche abgerissen. Eigentlich sind damit auch die Souvenirs der Beutezüge wertlos.

Bis 24.10, täglich 16-19 Uhr.

Die „Massenmord-Ikonen“ von A. Korpys und M. Löffler sind nur einen Katzensprung von den geschäftigen Ikonoklasten entfernt und gar nicht komisch. Der Serienkiller Jeffrey Dahmer steht dort im Mittelpunkt einer Dokumentation unter der Schirmherrschaft der Kunst- Werke in der Auguststraße 69. Selbst die Biographen vom Sensationsbuchhandel haben sich bereits der grausamen Geschichte angenommen, Bastei-Lübbe hat den Reißer „Wer ist Jeffrey Dahmer?“ im Westentaschenformat herausgegeben. Die aufgeblasenen Fotografien von Korpys und Löffler kommen an keiner Stelle über die Schauer-Belletristik hinaus, im Gegenteil, sie manifestieren eher noch die Apathie in der Darstellung des Terrors. Neben Detailaufnahmen, die den Serienkiller während der Vernehmung zeigen, haben die beiden im angrenzenden Ausstellungsraum „Gladbeck revisited“ als Dia- Show inszeniert. Männerhände, die sich machtvoll um Kanonen krampfen, wechseln sich mit den ängstlichen Opferblicken der Frauengeisel ab. Fast scheint eine stille Übereinkunft im Spiel mit Leben und Tod zu bestehen. Aber der trügerische Schein des Tatbestandes findet in der Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Massenmörder keine Brechung, eher wird das Dokumentarmaterial zynisch ausgewalzt. Wie eine Reliquie ist ein Karton mit Sammelbildchen von weiteren Maniacs aus der amerikanischen Kriminologie aufgebahrt worden. Der symbolische Tausch wird als wertschöpfend anerkannt, Ohnmacht mit Objektivität verwechselt. Die Tonbandeinspielungen einer Abhandlung über die Funktionsweise des Gehirns – gepaart mit einer Hitlerrede und musikalischen Varietéeinsprengseln – zeugen mehr von der Stockung medialer Aufklärungsarbeit, als daß sie Aufschluß über die Wechselwirkung von Horror- und Informationskult geben könnten. Zeichen sind nur ein Teil der Botschaft. Harald Fricke

Bis 31.10., Di., Do. 13-17, Mi., Fr. 9-13, So. 14-18 Uhr.