Bewegung im Stillstand

Der einstige Hamburger Bahnhof wird zum Ausstellungsbahnhof für „Zeitgenössische Kunst“/ Die strenge Symmetrie des bisherigen Bahnhofs geht verloren – aus Geldmangel  ■ Von Rolf R. Lautenschläger

In den Stillstand des einstigen Hamburger Bahnhofs und späteren Verkehrs- und Baumuseums kommt wieder Bewegung: In einem ersten Bauabschnitt wird das Gebäude im Schatten der Invalidenstraße seit dem Spätsommer für rund 92 Millionen Mark umgebaut und erweitert. Ab 1994/95 soll der Bahnhof der Abteilung „Zeitgenössische Kunst“ der Berliner Neuen Nationalgalerie Raum bieten.

Die Planungen des Architekten Josef Paul Kleihues sehen den Bau eines langgestreckten schmalen Ausstellungsflügels parallel zur historischen Bahnhofshalle vor. Vortrags- und Versammlungssäle, Büros und zusätzliche Schauräume werden in den beiden bestehenden Seitenflügeln eingerichtet. Vor der hohen Hauptfassade wird eine bis auf das Niveau der Eingangshalle angehobene Terrasse angelegt, die als Plattform für Skulpturen dienen kann. Die neue lichte Hülle für die zeitgenössische Kunst, die durch großzügige Raumhöhen und Oberlichter sowohl für große Formate als auch für Environments geeignet ist, soll sich mit der alten Bahnhofs- und Ankunftshalle sowie den Seitenbauten auf 8.000 Quadratmetern zu einer räumlichen Einheit für den Besucher verbinden.

„Es geht darum“, kommentiert Kleihues seinen Entwurf, „die geforderten Ausstellungsflächen alle auf Eingangsebene, als offene fließende Raumfolge anzubieten, die flexibel nutzbar sind, großzügige Teilungen erlauben, durchgehend über Oberlicht und große Raumhöhen verfügen“.

Die Entscheidung, dem alten Hamburger Bahnhof mit seiner strengen linearen Geometrie erst einen Ausstellungsflügel zu genehmigen und den zweiten parallelen Trakt wieder in Zeiten gefüllter Kassen nachzuliefern, entspricht ökonomischer und politischer Vernunft. Der Beschluß für ein „halbes Bauvorhaben“ berge natürlich die Gefahr, so der neue „Bahnhofsvorsteher“ und Kustos Wulf Herzogenrath, daß der „ursprüngliche Charakter der Symmetrie ein schiefes Bild erhält“. Der nächste Bauabschnitt dürfe darum nicht in weite Zukunft verschoben werden.

Zweifellos ist der Wettbewerbsentwurf von Kleihues aus dem Jahre 1989 für den „Ausstellungsbahnhof“ ganz auf die räumliche Figur des historischen Gebäudeensembles ausgerichtet. Die modernen Flügel orientieren sich in ihrer Architektur und den klaren Grundrissen an der Identität des Hamburger Bahnhofs. Doch der Bau des stählernen Hallenneubaus biedert sich der klassizistischen Fassade mit ihrer preußischen Aura kaum an, sondern geht auf Distanz zur alten Bausubstanz. Das Museum erhalte keinen „lahmen historisierenden Flügel“, so Kleihues, sondern eine moderne Halle, deren Form und Konstruktion den „Dialog zwischen Tradition und Moderne anstrebt“. Allerdings interpretieren die Aufbauten der Verbindungstrakte sehr eng die alte Fassade. Ebenso erinnert die Nähe, mit der der Ausstellungsflügel dem Mittelschiff auf dem Pelz rückt, an frühere Ummantelungen der historischen Abfahrtshalle. Ob die geringe bauliche Distanz zwischen Alt- und Neubau genügt, die Erlebbarkeit der Bahnsteig- und Museumshalle zu steigern, wird die Fertigstellung zeigen.

Schon die Geschichte des Hamburger Bahnhofs und seiner Nutzungen ist geprägt von Veränderungen. Friedrich Neuhaus plante 1847 das Bahnhofsgebäude. Wenige Jahre später wurde die Halle umgebaut. Ein dreischiffiges Eisengewölbe überdachte die um 53 Meter verlängerten Bahnsteige. Die Durchfahrten zum Bahnhofsvorplatz mit der Drehscheibe zum Wenden der Lokomotiven wurden mit Glas geschlossen. Als der Personen- und Postverkehr zum benachbarten Lehrter Bahnhof verlegt wurde, mußte 1884 der Hamburger Bahnhof schließen. Gleise und Bahnsteighalle wurden abgerissen. Das Hauptgebäude blieb erhalten und wurde zu Wohnzwecken umgebaut. 1905/06 baute man das Gebäude zum Bau- und Verkehrsmuseum um. Hinter dem Hauptbau lag nun die ingenieurmäßige Halle mit einem breiten überwölbten Mittelschiff in Stahlbauweise. 1910/16 wurden die beengten Räumlichkeiten durch zwei spätklassizistische Flügelbauten erweitert. Die Ausstellungsfläche wuchs auf 9.000 Quadratmeter. Schließlich wurde 1934/35 – zur 100-Jahr-Feier der deutschen Eisenbahnen – die Aussstellungsfläche erneut erweitert. Im Krieg wurden Teile des einstigen Bahnhofs zerstört. Erhalten blieben Rudimente des Hauptgebäudes, die Seitentrakte sowie die große Halle.

Zwischen Kleihues' Entwurf und Baubeginn hat sich die Zeit erneut gewandelt und den Standort des Museums vom fast vergessenen Ort an der Mauer mitten ins Zentrum gerückt. Herzogenrath plant die Zusammenarbeit mit Galerien und kulturellen Institutionen. Das fließende Raumprogramm, die Variabilität und funktionale Vielfältigkeit des Hauses ist konzipiert für Ausstellungen sowie für Diskussionsrunden, Seminare und Experimente. Diese Einrichtungen befördern die „transitäre“ Nutzung, die dem fast vergessenen Bahnhof an der früheren Mauer und zwischen zukünftigen Regierungs- und Parlamentsbauten, neuen Ministerien, Bahnhöfen und möglichen Schnellstraßen neue symbolische Bedeutung geben: als Eckpunkt einer Museums- und Kunstachse, die Herzogenrath bis in die Stadtplanung hinein „neu akzentuiert sehen will“. Diese „Achse“ bildeten, ausgehend von der Museumsinsel, das Tacheles, die Galerien und Ateliers in der Oranienburger- sowie der Auguststraße, das Naturkundemuseum und endlich des Museum für Zeitgenössische Kunst.