Spiel, Spaß, Spannung, Kinderüberraschung

■ Was erwartet das Berliner Publikum vom Theater? / Ein Bummel durch fünf Foyers

Keine Verdi-Inszenierung würde sie auslassen, schwärmt die Dame in der Kassenschlange für „Don Carlos“ in der Deutschen Oper: „Wir fahren jedes Jahr in die Mailänder Scala.“ Dort ist die Atmosphäre sicher anders als in dem klotzigen, sechs Wochen nach dem Mauerbau eingeweihten Bau an der Bismarckstraße, dessen gnadenlose Symmetrie so scharf zwischen rechts und links trennt wie der Kalte Krieg. Im Foyer gibt es immerhin eine schöne Ausstellung zum Werk Aribert Reimanns. „In der Oper muß es was zu gucken geben“, findet die Geschichtsstudentin Friederike. Sie ist Stammkundin der Deutschen Oper, wo ermäßigte Karten nur zehn Mark kosten, obwohl das Haus mit jährlich 80 Millionen Mark Subventionsbedarf Berlins teuerstes Theater ist.

„Ganz oben in der Hitparade der Publikumsgunst liegen das 'Metropol‘ und die Boulevardtheater am Ku'damm“, meint Otfried Laur vom „Berliner Theaterclub“, mit 50.000 Mitgliedern die größte der drei Berliner Besucherorganisationen. Trotzdem ist das Metropol, das jährlich mit 30 Millionen bezuschußt und demnächst privatisiert wird, noch weit davon entfernt, Gewinne zu machen. Die „West Side Story“ an diesem Mittwochabend ist fest in der Hand westdeutscher Schulklassen, denen vierzig Mark pro Karte nicht zuviel waren. Die Mädchen haben sich schick gemacht und begutachten einander im milden Licht des mit Kronleuchtern und Bildern im Stil der Belle Époque geschmückten Foyers. Die Jungen sind dagegen betont ungekämmt erschienen. Was sie vom Theater erwarten? „Ist doch klar: Spiel, Spaß, Spannung, Kinderüberraschung.“

Vor wenigen Jahren zogen die privaten Boulevardtheater „Komödie“ und „Theater am Kurfürstendamm“ noch ein Viertel des gesamten Westberliner Publikums an, heute sind die fast 1.500 Plätze oft nicht ausgelastet, so daß 1993 der Musicalkönig Friedrich Kurz ins Theater am Kurfürstendamm“einziehen wird. Der Schwund ist ein natürlicher Vorgang, denn die große Mehrheit des Publikums hat die Lebensmitte bereits beträchtlich überschritten. Vergnügt betrachtet ein in Curth Flatows Dauerbrenner „Verlängertes Wochenende“ strebender Herrenclub die Plakate für das Stück „Trau keinem über sechzig“: „Das trifft dich, Hubert, was?“ Am Eingang zum Foyer – das teuer aussieht mit dem Marmorfußboden, der glitzernden Bar und der pseudoklassizistischen Stuckverzierung – wartet eine kregle 87jährige auf ihre gleichaltrige Kusine: „Wir haben ein Abonnement, und in die lustigen Stücke gehen wir am allerliebsten.“

Im Foyer des „Café Theater Schalotte“ nahe dem Richard- Wagner-Platz hält ein Ventilator Winterschlaf. Die zwanzig Mark teuren Karten haben vor allem junge Intellektuelle erworben, die um kleine Tischchen mit Plastikdecken hocken und Rückendeckung an der gelb getünchten Wand suchen. In klassische Stücke ginge sie fast nie, aber häufig in Off-Theater wie dieses, sagt eine 29jährige Psychologin und rückt ihre kühn geschwungene Brille zurecht. „Ich bin aber anspruchsvoll und lese mir vorher die Kritiken durch.“

Pause in den „Wühlmäusen“ in der Nürnberger Straße. Das Gewühl in dem nüchternen Foyer besteht hauptsächlich aus Menschen mittleren Alters, die sich betont bunt und locker gekleidet haben, um politische Aufgeschlossenheit zu zeigen. „Wir gehen am liebsten ins Kabarett, weil das aktuell ist“, erzählen Edith und Dieter, die ganz besonders bunt aussehen. „Allerdings sollten die niemanden zu stark persönlich angreifen.“ 30 Mark Eintritt waren ihnen nicht zuviel für das Gefühl, das ihnen solches Theater vermittelt: „daß wir in einer Demokratie leben“. Miriam Hoffmeyer