Rußlands Aufbruch in den Kapitalismus

Zum neuen blutsaugenden Feindbild wurden die Betreiber der relativ frei wirtschaftenden Kooperativen. Die Jugend hingegen zeigt sich unbelastet von ideologischen Vorurteilen gegenüber Marktwirtschaft und Erfolg.  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Wenn Igor abends nach Hause kommt, kann er zufrieden sein. Er hat mehr verdient als sein Vater, der von morgens bis abends einem biederen Job nachgeht. Igor ist elf Jahre alt und besucht noch die Schule. Doch nutzt er jede freie Minute zum Geldverdienen. Wie Tausende Jugendliche seines Alters steht er an einer belebten Moskauer Straßenkreuzung und putzt die Windschutzscheiben der Autos. Manchmal greift er auch zum Tuch, selbst wenn der Fahrer dies nicht will. „Aggressive Marktstrategie“ würde man das im Westen nennen. Im embryonalen russischen Kapitalismus gibt es dafür noch kein Theorem. Hier läuft alles nach trial and error.

Jugendliche „erschließen“ zunehmend den brachliegenden Dienstleistungssektor der postsozialistischen Gesellschaft als ihre Einnahmequelle. So auch vor den lichtdurchfluteten Hallen der Moskauer McDonald's-Filiale. Den sich geduldig vorwärtsschiebenden Schlangen tragen sie ihre Hilfe an: „Fünf Minuten“ für einen Double Cheese Burger zum Aufpreis von zwanzig Rubel. Das erspart diesen immerhin eine halbe Stunde Wartezeit.

Vorboten oder Krisengewinnler

Die junge Generation ist frei von ideologischen Vorurteilen. Mit Normen wurden sie nicht überladen. Im Gegenteil, die Anarchie der letzten Jahre hat sie sich mehr oder weniger selbst überlassen. Dennoch lehrte sie der Alltag eins: Profitabel muß er sein.

Vielleicht sind sie die Vorboten eines blühenden Kapitalismus oder auch nur die Krisengewinnler eines gesellschaftlichen Zerfallsprozesses. Die Betriebsamkeit dieser Jugendlichen ist für Rußland ein ungeheuerliches Phänomen: Es hat den Anschein, als hätten sie Jahrhunderte russischer Mentalitätsgeschichte abgeschüttelt.

Denn nicht nur die letzten siebzig Jahre Sowjetherrschaft und Planwirtschaft dürfen für das Fehlen der Attribute einer „Zivilgesellschaft“ verantwortlich gemacht werden. Die historischen Wurzeln liegen in Rußland wesentlich tiefer. Erfolg, wie ihn die nachrückende Generation anstrebt, galt in den Augen der Mehrheit immer als anrüchig. Der Erfolgreiche war nie ein Vorbild, zu dem man aufschaute. Vielmehr wurde er kriminalisiert — irgend etwas konnte da nicht „mit rechten Dingen zugegangen sein“. Nur wenig hat sich daran bis heute verändert. Als Gorbatschow sein Placet für die relativ frei wirtschaftenden Kooperativen gab, wurden ihre Betreiber über Nacht zum neuen blutsaugenden Feindbild.

Die russische Literatur — aber vor allem das Märchen — bietet eine unerschöpfliche Fundgrube. „Iwan der Dumme“ heißt bezeichnenderweise eine Sammlung über den russischen Volksglauben, die der ehemalige Dissident Andrej Sinjawskij kompiliert hat. Demnach sucht das Märchen seine Helden nicht etwa unter den Besten, sondern immer unter den Geringen.

„Wenn er ein Bauer ist, dann ein armer Bauer, der ärmste und letzte im ganzen Dorf. Zum Märchenhelden wird niemals der älteste, erfolgreiche Sohn, sondern immer der unversorgte und übergangene jüngste.“ Doch das nicht allein! Dem Helden geht jegliche Lebenstüchtigkeit ab. Er ist nicht nur der jüngste, sondern auch der schwächste, unscheinbarste, unansehnlichste und häßlichste.

Jewgenij Trubezkoj verwies noch auf eine weitere Komponente. Erfüllung ihres Lebensglücks erwarteten die Helden ausschließlich „von oben“, ohne eigenes Zutun und in Pflichtvergessenheit. Die Willensschwäche schreibt er dem Einfluß der russisch-orthodoxen Kirche zu, die den Gläubigen in eine Statistenrolle verwiesen habe. Die Auswirkungen des Glaubens auf die „völkische“ Mentalität ist unter den Historikern sehr umstritten. Man tut der Kirche aber sicher kein Unrecht, wenn man ihr ambivalentes Wirken vorhält.

Rußland — das damalige Kiewer Reich — wurde von Ostrom christianisiert. Zu einem Zeitpunkt, als das byzantinische Imperium schon im Zerfall begriffen war und seine Lebensformen erstarrten. Schöpfertun war von ihm nicht mehr zu erwarten. Dennoch gab es dem Kiewer Reich mit der kirchlichen Hierarchie eine erste administrative Organisation. Der Despotismus von Byzanz, seine intriganten Palastrevolutionen, die Geringschätzung persönlicher Freiheit und seine Scheu gegenüber freiem Denken — all das wollen Historiker auch in der Kontinuität der russischen Geschichte wiedererkennen.

Das Wohlwollen subalterner Erpresser erkaufen

Für die Sonderentwicklung Rußlands, sein nichteuropäisches, aber auch nicht asiatisches Wesen wird vielfach die geographische Randlage bemüht. Sie verurteilte die Russen dazu, Europa vor den aus Asien periodisch hereinbrechenden Tatarenhorden zu verteidigen. Das römisch-katholische Europa kam dem Land nicht zur Hilfe. Die Vermengung mit dem tatarischen Element und die negative Funktion der Kirche, die das Mittelglied zwischen Fremdherren und eigenem Volk spielte, hat in der Tat unübersehbare Folgen gezeitigt.

Die tatarischen Verwüstungen erschwerten nicht nur den allmählichen Aufbau eines Wirtschaftssystems, das den Anreiz hätte schaffen können, über den Tag hinaus zu produzieren. Die Toleranz der mongolischen „Goldenen Horde“ in religiösen Fragen trennte Volk und Kirche, da diese sich nicht zur Vorreiterin eines russischen Unabhängigkeitskampfes machte. Vielmehr zog die Goldene Horde die Kirche im Tausch gegen gewisse Privilegien zu einem botmäßigen Vollstrecker staatlicher Interessen heran. Dem Volk hatte sie absolute Unterwürfigkeit zu predigen.

Wer fühlte sich nicht in das heutige Rußland versetzt, wenn er den Historiker Giterman liest: „Wer mit der tatarischen Bürokratie zu tun hat, war genötigt, sich längs eines vielstufigen Instanzenweges durch Verteilung von Gaben erst das Wohlwollen aller subalternen Erpresser zu erkaufen, ehe er hoffen durfte, von der zuständigen Amtsperson zur Audienz empfangen zu werden.“

Die Abschüttelung des Tatarenjochs brachte dem Volk keine Erleichterung. An seine Stelle trat die Tyrannei des Großfürsten von Moskau, die die Untertanenverhältnisse konservierte und sich durch besondere Kulturfeindlichkeit auszeichnete. Die Tatarenherrschaft währte nur zwei Jahrhunderte. Aber für die Entwicklung des Landes zeitigte sie weiterreichende Folgen. Im Vergleich mit dem übrigen Europa blieb die Bevölkerungsdichte äußerst niedrig. Den Grundherren fehlte das Geld, um eine ritterliche Kultur auszubilden. Erst zur Zeit Peters des Großen, der sein Land mit aller Gewalt am Westen ausrichten wollte und gezwungen war, Handwerker und Fachleute aus dem Ausland zu rekrutieren, fand das Russische mit dem Wort „tschestj“ Anfang des achtzehnten Jahrhunderts einen Begriff für „Ehre“. Die finanzielle Schwäche des Adels verhinderte nicht nur das Heranreifen einer Geldaristokratie, sie begrenzte auch die Akkumulationsmöglichkeiten des bürgerlichen Kapitals.

Wenn heute westliche Geschäftsleute über mangelnde Verläßlichkeit ihrer russischen Partner klagen, über deren Wankelmütigkeit und Neigung, Vertragsbedingungen je nach „Ausgangslage“ neu zu definieren, hat das sicherlich nicht ursächlich mit dem verspäteten Ehrbegriff zu tun. Es verweist vielmehr auf das Fehlen eines Verhaltenskodex und den Mangel struktureller Eigenverantwortlichkeit.

Auch in vorrevolutionärer Zeit gab es keine russische Unternehmerschaft, die diese Bezeichnung verdient hätte. Die Investoren im 19. Jahrhundert kamen vornehmlich aus dem Ausland. Marx und Engels hatten für das russische Unternehmertum — und „das fast beispiellose Talent der Russen zum Handel auf niederer Stufe“ — nur Hohn und Spott parat. Je weiter man nach Osten käme, desto feiger würde diese Kaste.

Allerdings darf man eines nicht übersehen. Jeder Industrialisierungsschritt Rußlands war ein staatlicher Kraftakt durch die Verschmelzung des Militärs mit dem Wirtschaftsapparat. Die Industrie entstand nicht aus dem Handelskapital oder den Überschüssen der Landwirtschaft wie in Westeuropa. Die innergesellschaftliche Dynamik war von vornherein blockiert. Dafür sorgte unter anderem ein minutiös ausgefeilter staatlicher Repressionsapparat. Ein unabhängiges Bürgertum konnte sich kaum entwickeln: Die von staatlichen Investitionen gegründete Industrie arbeitete vornehmlich für das Heer.

Ausreichend Anlaß zum Naserümpfen

Heute ist es wieder die parasitäre Bürokratie, die mit allen Mitteln Privatisierungsprojekte hintertreibt, ob in Landwirtschaft oder Industrie. Wo sie kann, wirft sie den Antragstellern Knüppel zwischen die Füße. Und diese sind nicht allzu viele. Denn die Komplementarität zwischen entmündigendem Obrigkeitsstaat und dem Bürger, der sich freiwillig in Unterwerfung übt, — seinen Frieden in der Privatheit sucht —, stellt auch im heutigen Rußland noch den gesellschaftlichen „Mittelwert“. Jener Teil, der es bisher geschafft hat, sich erfolgreich in der „Geschäftswelt“ zu etablieren, gibt dagegen meist ausreichend Anlaß zum Naserümpfen.

Wenn der einfache Mann sofort seinen reichhaltigen Vorurteilsschatz reaktiviert, muß das nicht verwundern. Nehmen wirden ersten Millionär der Gorbatschowzeit, Artiom Tarasow: Parlamentarier und Hoffnungsträger, mit besten Kontakten in die Kommandozentralen der Macht. Ein Korruptionsskandal jagte den nächsten. Zuerst verschaffte er sich eine Exklusivlizenz für den Import von Computern. Dann kaufte er staatliche Ölvorräte für lächerliche Rubelbeträge auf, um sie gegen Dollar ins Ausland zu verschachern. Dazu bedarf es einer staatlichen Ausfuhrgenehmigung. Und die lag vor! Nach weiteren korruptionsverdächtigen Machenschaften mußte er im Ausland untertauchen.

Dieses Beispiel kann pars pro toto stehen. Es legt gleich mehrere strukturelle Homologien frei. Geld verdient man in Rußland heute nur im nichtproduzierenden spekulativen Bereich. Um erfolgreich zu sein, muß man engste Kontakte zur allgewaltigen Bürokratie unterhalten. Am besten aber, man selbst entstammt diesen Zirkeln. Das offenbart sich augenfällig bei den zahlreichen „Generaldirektoren“ der neugeschaffenen Bankinstitute. Sie sind keine Banker. Ihr einziges Wissen besteht in der Kenntnis, wo sich veritable Rubelpolster bei Staatsbetrieben oder Organisationen der verbotenen KPdSU befinden.

Die Geschäftsfrau Irina Hakamada von der russischen Warenbörse kommentiert mit Bedauern: „Die Mentalität unserer Leute kennt nicht den Begriff der Verantwortung. Ein Broker setzt dein ganzes Geld in den Sand und du kannst nichts dagegen machen. Wahrscheinlich wird er einfach zu einer neuen Firma wechseln“.

Sie selbst sieht sich als Pionierin, die den Weg ebnet. Grundsätzlich ändern wird sich erst etwas mit der nachwachsenden Generation, wie sie Igor vertritt. „In unserer Generation gibt es noch keine Geschäftsleute“. Anstatt soviel wie möglich abzuschöpfen, sollten wir mehr in die Entwicklung unserer Kinder stecken, ihnen einen sicheren Weg eröffnen, so ihr Credo. Andererseits gibt sie sich zuversichtlich, auch die Russen würden eines Tages den „Gesetzen des Marktes gehorchen“.

Russische Gewißheiten bleiben auf der Strecke

Mit Sicherheit bliebe dann eine Menge russischer Gewißheiten auf der Strecke, die die Intelligentsija über zwei Jahrhunderte mit besonderer Verve reproduziert hat. Die Neigung der Russen zur Gleichheit, ihre Selbstbescheidung und Verachtung alles Materiellen. Ein Fünkchen Wahrheit mag darin enthalten sein. Doch die Intelligenz erhob es zur Gewißheit einer anthropologischen Konstante und leitete daraus gar ab, ihr Volk sei zu einer Heilsmission in der Welt berufen. Der Gedanke, diese Tugenden könnten vielleicht Antworten auf die widrigen Lebensumstände sein, stieß in intellektuellen Zirkeln auf wenig Popularität.

Frau Hakamada arbeitete früher auch an einem wissenschaftlichen Institut. Viele ihrer damaligen Kollegen betrachten sie heute mißtrauisch. Geschäfte machen, freiwillig auf das Prestige eines Wissenschaftlers zu verzichten, das paßt nicht in ihre Wertewelt. Die selbständigen Gehversuche fallen der Intelligenz schwer. Im positiven wie im negativen Sinne hatte sie sich auf den Staat fixiert. Er gab ihr ihre Identität.

Die Zeit des Aufbruchs wird in Rußland noch lange dauern. Illusionen werden zuhauf zerbrechen. Die Intelligenz muß der Versuchung widerstehen, erneut zum angesehenen Mythenproduzenten zu avancieren.