■ Ökolumne
: Wirtschaft als Gesundheitsrisiko Von Hermann-J. Tenhagen

Werdende Mütter in der Chip-Produktion bei IBM müssen um ihren Embryo fürchten, weil das Unternehmen bestimmte Chemikalien einsetzt, die zu vermehrten Fehlgeburten führen. Einen ersten Hinweis auf die Gefährdung gab es schon vor fünf Jahren. IBM führte eine aufwendige Studie durch, um die Befürchtungen zu zerstreuen; aber die Untersuchung bestätigte den Verdacht.

Dennoch ist den Managern von IBM, systemimmanent betrachtet, kein Vorwurf zu machen. Sie taten nur, was alle tun, wenn ein Stoff in Verdacht geraten ist: Sie leiten sorgfältige Untersuchungen in die Wege. Und die Forscher arbeiteten nach dem klassischen Prinzip, daß etwas so lange als gesund zu gelten hat, wie es nicht als giftig nachgewiesen ist. Auch für Chemikalien gilt die Unschuldsvermutung.

Das Dilemma von IBM ist das Dilemma der ganzen Industriegesellschaft: Der Mensch ist täglich von Zigtausenden Chemikalien umgeben, über deren Wirkungen nichts oder so gut wie nichts bekannt ist. Wenn der synthetische Stoff nicht dazu führt, daß Menschen unmittelbar tot umfallen, dauert der Nachweis der Giftigkeit Jahre, manchmal Jahrzehnte. Neue Stoffe, die auf den Markt gebracht werden sollen, müssen inzwischen genauer untersucht sein. Aber immer noch werden 70.000 bis 100.000 nicht hinreichend erforschte Altstoffe in größeren Mengen verkauft. Ein regierungsamtliches Beratungsgremium hat in Deutschland zwar die Aufgabe, die schon auf dem Markt kursierenden Chemikalien unter die Lupe zu nehmen; aber das Gremium schafft es innerhalb von Jahresfrist lediglich, etwa zehn der 70.000 bis 100.000 Stoffe mit einem ausführlichen Bericht zu würdigen.

Ein hoffnungsloser Kampf also gegen die Flut möglicherweise giftiger Umweltchemikalien – so erscheint es. Doch die Hoffnungslosigkeit hat mit der politischen Selbstamputation der Industriegesellschaft zu tun. Würde die Beweislast der Ungiftigkeit bei den Herstellern der Altchemikalien liegen, wäre der Kampf gegen die Gifte nicht mehr aussichtslos. Statt der Unschuldsvermutung, auf die das geltende Recht bei neuen Chemikalien schon heute verzichtet, müßte der Sippenverdacht gegen möglicherweise gefährliche Chemikalien stehen.

Dabei wäre es nicht einmal notwendig, jeden einzelnen synthetischen Stoff auf seine Giftigkeit zu überprüfen. Es reicht vorläufig, Chemikaliengruppen zu identifizieren, die als schädlich gelten können. Computer sind schon heute in der chemischen und pharmazeutischen Industrie ein nützliches Instrument beim Aufdecken ähnlicher Strukturen bei verschiedenen Stoffen. Ist eine Struktur als für die Giftigkeit bestimmter Stoffe verantwortlich entlarvt, böten Rechner die Möglichkeit, diese Strukturen bei anderen Chemikalien wiederzufinden. Die Erfolgsquoten liegen immerhin bei 80 Prozent. Was die Industrie heute schon bei der Suche nach neuen Arzneimitteln und weniger belastenden Insektiziden praktiziert, ist prinzipiell auch ein gangbarer Weg für die Überprüfung der Altstoffe.

Gegen diese Idee aber steht eine mächtige Lobby. Zum einen hat die Industrie selbst kein Interesse daran, größere Teile der 70.000 bis 100.000 Altstoffe aus dem Verkehr zu ziehen. Zum anderen will sie keine umgekehrte Beweislast akzeptieren: Wenn bei dem Verfahren in kurzer Zeit beispielsweise 10.000 der 70.0000 Stoffe als potentiell giftig entlarvt würden, müßte die Industrie den Nachweis führen, daß das Verfahren in einzelnen Fällen irrt. Das wäre zeitaufwendig und teuer – genau wie die gegenwärtige Forschung, die jedoch meist aus öffentlichen Kassen bezahlt wird.

Doch auch die etablierte Toxikologie kann sich mit solch groben Sieben nicht anfreunden. Die Wissenschaftler leben davon, einen Stoff nach dem andern in langwierigen Versuchen zu überprüfen und Bibliotheken vollzuschreiben, bevor nach Jahren seine Giftigkeit oder auch Ungefährlichkeit feststeht.

So sieht die Realität nach wie vor anders aus: Chemieindustrie und Toxikologen hetzen die besorgte Öffentlichkeit und ihre Repräsentanten über die Dörfer und lassen sie in jahrlangem Kampf das eine und andere Kunstprodukt als schädlich für Mensch und Tier entlarven. Die gerade erst gegründete Chemie-Enquete-Kommission des Bundestages hätte die Möglichkeit, eine chemiepolitische Wende einzuleiten – zum Beispiel, indem sie alle Stoffe mit einer Chlor- Kohlenstoff-Verbindung der Giftigkeit verdächtigt und ihr Verbot empfiehlt, bis die Industrie im Einzelfall das Gegenteil beweisen kann. Auch eine andere Faustregel der Toxikologen sollte Beachtung finden: Alles, was fettlöslich ist, muß als gefährlich gelten, weil diese Stoffe schnell in die Blutbahn gelangen und sich in Leber und Knochenmark anreichern können.

Auf den groben Klotz der alltäglichen Gefährdung durch zigtausend, möglicherweise giftige Stoffe gehört endlich der grobe Keil der chemischen Sippenhaft.