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„Willy, wir danken Dir“

Zehntausende nahmen gestern in Berlin am aufgebahrten Sarg Abschied von Willy Brandt/ Ergreifende Szenen und Presserummel bis zur Schlägerei  ■ Aus Berlin Plutonia Plarre

„Willy wir danken dir, schlaf gut!“ Lauthals durchbrach ein vielleicht 50jähriger Berliner vor dem Sarg von Willy Brandt die andachtsvolle Stille, riß sich seine Mütze vom Kopf und stürmte sichtlich ergriffen hinaus. Einen Tag vor den offiziellen Trauerfeierlichkeiten haben gestern die Berliner und viele Gäste aus dem In- und Ausland im Rathaus Schöneberg von dem letzten großen Politiker in diesem Lande Abschied genommen.

Lange bevor sich die Pforten zum Defilee öffneten, hatte sich draußen auf der Straße schon eine lange Schlange gebildet. Ein 26jähriger Franzose war erst wenige Stunden zuvor aus Paris eingetroffen: „Ich bin hier für meinen Vater, der Sozialist war, und für Frankreich.“ Eine 49jährige Diplomingenieurin kam „für den Mann, der so viel für Deutschland getan“ hat, eigens aus Dresden.

Viele der Trauernden konnten ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie mit gesenktem Kopf vor dem mit der Bundesdienstflagge bedeckten Eichensarg, flankiert von einer Ehrenwache der Berliner Polizei und Kerzenkandelabern, standen. Von einer Kordel auf sicheren Abstand zur Bevölkerung gehalten, hielten links und rechts vom Sarg sechs Berliner PolizistInnen die Totenwache. Auf der gegenüberliegenden Seite verharrten vier Mitglieder der Falken, der sozialistischen Arbeiterjugend, in blauem Hemd und rotem Halstuch mit gesenkten Fahnen.

Das Defilee war am frühen Morgen von der Berliner Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien, dem Senat und der Berliner SPD-Fraktion eröffnet worden. Punkt acht Uhr stimmten die Schöneberger Sängerknaben das Lied „Jetzt ist der Himmel wieder blau in Berlin, bald scheint die Sonne wieder“ an. Es war angeblich eines von Willy Brandts Lieblingsliedern, der von 1957 bis 1966 Berliner Bürgermeister war.

Um zehn Uhr wurde die andachtsvolle Stille erneut durch Blitzlichtgewitter und lautes Gerempel der Presse unterbrochen: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Björn Engholm, Fraktionschef Ulrich Klose, die Partei-Vize Herta Däubler-Gmelin und Wolfgang Thierse waren gekommen, um von Willy Brandt Abschied zu nehmen. Als die vier vor dem Sarg verharrten, kam es hinter den Blumen-Bouquets fast zu einer Schlägerei zwischen Fotografen und Wachmeistern: Die knipsende Zunft hatte sich partout nicht davon abbringen lassen wollen, auf dem abgesperrten Terrain am Sarg einen hautnahen Schnappschuß von den bleichen Gesichtern der SPD-Spitze zu erhaschen.

Im Gegensatz zu den Medien, gedachte die Bevölkerung Willy Brandts auf respekt- und würdevolle Weise. Auch daß die vielen mitgebrachten Rosen den Wachtmeistern übergeben werden mußten, statt sie eigenhändig vor dem Sarg abzulegen, akzeptierten die Menschen anstandslos. Die Anordnung war erfolgt, weil morgens eine Bombendrohung eingegangen war.

Alt und jung, Männer und Frauen, Ausländer und Deutsche: Zehntausende zollten dem Toten gestern stumm und ergriffen die letzte Ehre. Auch als der Strom der Trauergäste einmal etwas länger ins Stocken kam, wurde kein Protest laut. Ein südländisch aussehender Mann hatte sich minutenlang vor dem Sarg niedergekniet, die Hände vor's Gesicht erhoben und stumm die Lippen bewegt.

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