„Der Mensch macht die Geschichte“

■ Gorbatschow erteilt eine „Berliner Lektion“ und wird von heiklen Fragen verschont

Berlin. Eine wahre Liebe läßt sich durch nichts erschüttern. Michail Gorbatschow ist so ein Mann, den die BerlinerInnen wahrhaftig lieben. Je explosiver die Probleme in seiner Heimat werden, desto nostalgischer verehrt man den zukünftigen Ehrenbürger Berlins, den guten Kommunisten, der als erster den Deckel vom roten Dampftopf genommen hat. Als sich am Freitag abend die Kunde verbreitete, daß er am Sonntag morgen in der Vortragsreihe „Berliner Lektionen“ über Willy Brandt sprechen wolle, herrschte Aufregung in der Stadt. Es gab Menschen, die noch in der Nacht zum Renaissance-Theater pilgerten, um bei Kassenöffnung eine Eintrittskarte ergattern zu können. Mühelos hätte er die Deutschlandhalle füllen können. Und als Gorbatschow dann mit Frau Raissa, flankiert von Ex-DDR-Regierungschef Lothar de Maizière, Kultursenator Ulrich Roloff-Momin, der Schauspielerin Jutta Lampe und dem Dramatiker Rolf Hochhuth, erschien, erschollen die unvermeidlichen „Gorbi, Gorbi“- Rufe, und im Theater erhielt er stehende Ovationen, bevor er überhaupt den Mund aufmachte.

Was dann folgte, war eher für Nachrufschreiber wichtig. „Willy Brandt war mein persönlicher Freund“, bekannte Gorbatschow. Für immer habe sich ein Bild in sein Gedächtnis gegraben, das er als junger Mann gesehen habe. Das Brandenburger Tor, zur einen Seite Panzer und Soldaten, zur anderen Seite eine Menschenkette, darunter Willy Brandt. Aber erst 1985 sei er Brandt zum ersten Mal begegnet, einem „Gleichgesinnten“. Denn der Verstorbene habe „die Ideen unseres Umbaus der Gesellschaft sofort aufgenommen und unterstützt“. Deutlich war Gorbatschow bemüht, Parallelen zwischen sich und Brandt zu ziehen. Der deutsche Ex-Bundeskanzler habe (genau wie er, stand ungesagt im Raum) in schwierigsten Situationen nie aufgehört, für die Demokratie und die Vernunft zu streiten. Er habe (wie er selbst durch Jelzin) Schläge hinnehmen müssen. Brandt sei (wie er) der Beweis dafür, daß „Menschen die Geschichte machen“ (so der Titel seines Vortrags). Eine Situation sei nur dann hoffnungslos, zitierte er Brandt als aktuelle Botschaft über seine Befindlichkeit, „wenn du glaubst, daß sie hoffnungslos ist“. Der Weg der Perestroika sei dornenreich – und wieder folgte ein Zitat –, aber „wer nicht schießen will, muß reden“.

Die Beifallsstürme quittierte Gorbatschow mit einem Geschenk: Er stehe jetzt Fragen zur Verfügung, sagte er. Er hatte Glück. Keiner fragte ihn, warum er vor dem Verfassungsgericht nicht aussagen wollte, keiner, warum er die Unterlagen über das NKWD- Massaker in Katyn 1941 in seinem Panzerschrank verborgen gehalten habe.

Man fragte ihn, ob er seine politische Quarantäne als Niederlage empfinde. Ja, antwortete Gorbatschow. Der Sozialismus und sein Modell des langsamen Umbaus habe ein Niederlage erlitten, denn „wir haben den Totalitarismus schneller zerstört als eine neue Gesellschaft aufgebaut“. Aber Jelzins Versuch, die Privatisierung in vier Monaten über die Bühne zu ziehen, sei „Neostalinismus“ auf Kosten der Ärmsten und Schwächsten. Er werde nicht aufhören, für die „Perestroika auf evolutionärem Weg“ zu streiten. Anita Kugler