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Der Papa wird Haustyrann

Will Quadflieg spielt am Hamburger Thalia den King Lear  ■ Von Niklaus Hablützel

Ein roter, durchsichtiger Schleier verhängt den Königssaal. Schemenhaft zeichnen sich dahinter Gestalten ab, die mondän sein könnten. Eine Party scheint in Gang kommen zu wollen. Man wartet auf etwas Wichtiges, vertreibt sich die Zeit, und so scheint Shakespeare mal wieder ganz eingebettet zu sein in ein Bild der gegenwärtigen Gesellschaft. Doch ganz so leicht hat es sich Jürgen Flimm nicht gemacht. Er möchte den King Lear schweben lassen zwischen aktuellen Bedeutungen und absolutem, zeitlosem Drama, einem Drama schrecklicher alter Männer vor allem, die schon vor dem Tod büßen müssen für Dinge, die sie zeitlebens nie als Verfehlung begreifen konnten.

Fröhliche Männer sind das zunächst, lebenslustig und ungeniert wie Fritz Lichtenhahn, der, vom Grafen von Kent begleitet, als erster vor die rote Gaze tritt, hinter der das Verhängnis droht. Oh ja, „hoch ging es her“, als der Graf von Gloucester seinen Bastard zeugte, den Edmund, der jetzt noch linker Hand im Schatten steht, draußen vor der Tür. Denn Erich Wonders Bühne ist beides: ein Gebäude und eine Ödnis. Schwarz stehen tragende Balken im Raum, brechen die Symmetrie des Bühnenportals und verdoppeln zugleich den Rahmen des Guckkastens. Ein quadratisches Fenster in der roten Rückwand verlängert die Fluchtlinien des Hauses hin zu gemalten Ausblikken auf meist bewölkten Himmel.

Doch diese Perspektive ist irreal, der Palast steht schief, links davon liegt Unrat herum, schwarze, zerrissene Pappe hängt von der Decke herab, ein paar rostige Ölfässer werden ihren funktionalen Zweck erst nach drei Stunden verraten. Dann wird Feuer darin brennen und das Lager der vereinigten Heere von Albany und Cornwall beleuchten. Längst sind dann die Grenzen zwischen Haus und freiem Feld aufgelöst, archaische Wurfspeere werden sich in den Teppichboden bohren. Frankreichs junger König zieht gegen die alten Männer ins Feld, in seinem Gefolge die Tochter Cordelia, die Lear verstoßen hat.

Ein lange Geschichte. Vier Stunden dauert sie in Hamburg, und Jürgen Flimm hat sich der Mühe unterzogen, sie von vorne bis hinten zu erzählen, sie nicht zu reduzieren auf den Wahnsinn des einsamen Königs. Das hätte ja durchaus nahegelegen, denn die Rolle konnte mit einem der ganz Großen des deutschen Theaters besetzt werden: mit Will Quadflieg. Ein Glück für ihn, den heute 78 Jahre alten Schauspieler, daß er nicht alleine die Last des Reisedramas tragen muß; er kann sie verteilen auf andere, jüngere, allen voran auf Wolf-Dietrich Sprenger, den Narren, Hans Kremer als Gloucesters Sohn Edgar, auf Sven- Erik Bechtolf, den Bastard Edmund, und auch auf Christoph Bantzer, den Grafen von Kent.

Um dieses Quartett von Schauspielern der mittleren Generation ist das Hamburger Theater zu beneiden, jeder von ihnen zeigt scheinbar mühelos gespielte Charakterstudien voller Witz und Präzision. Sie tragen auch diese Inszenierung über manche Länge hinweg, geben ihr Halt und Auftrieb, wenn sie in den enormen Textmengen der Flimmschen Fassung stecken zu bleiben droht. Eine gewisse kunstgewerbliche Langeweile können auch sie auf Dauer nicht vertreiben. Zu deutlich sollte dieser King Lear eine Hommage an Will Quadflieg werden. Wohl auch eine letzte Herausforderung an diesen alten Mann, aber nobel, wie Flimmm nun mal ist, hat er sie dem Grandseigneur seines Ensembles dann doch nicht ganz zugemutet, hat den Quadflieg Quadflieg sein lassen – und den Lear Lear.

Noch ist die Welt in Ordnung vor dem roten Schleier. „Der König kommt“, sagt der schlohweiße Lichtenhahn und rückt gichtig die Stühle zurecht. Will Quadflieg kommt, bärtig, ein wenig schnaufend und ist gar kein König. Ein munterer alter Herr nur, und wie er sich freut, seinen Töchtern eine Überraschung zu bereiten! Setzt sich hin und läßt sich was an Tochterliebe vorlügen von Goneril und Regan, schenkt ihnen schmunzelnd ihren Teil des Reiches, und immer schwingt die Zeit mit, die Quadfliegs Ruhm begründet hat. Es ist die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, der schenkelklopfenden Wiederaufbauer, die sich nun auch mal was gönnen und doch nie vergessen, was sich gehört. Noch verträgt Shakespeares Lear diesen Zug ins Biedere, auch er zerbricht, wenn ihm Cordelia die Wahrheit sagt. Hier tut das Annette Paulmann gehörig stockend und schnippisch, wie es nun mal ihre Art ist. Quadflieg donnert los, aus dem Papa wird nun ein Haustyrann, ein Schreihals und Händefuchtler. Ein König aber ist er immer noch nicht.

Dabei wird es bleiben. Manchmal schimmert ein wenig Millowitsch hindurch, und wenn Lear später auch den Rest seines Verstandes verliert, dann erinnert sein Delirium mitunter an die besten Kalauer von Heinz Erhardt. Quadflieg will sich selbst zerstören, gibt sich auf, ist kein bißchen tragisch, sondern ein peinlich brabbelnder, dann wieder auftrumpfender Greis, aber in all diesen absichtsvollen Demontagen kreist der Altmeister doch nur um sich selber, inszeniert die Legende sich selber. Einer wie er, der so deklamieren kann, darf sogar unverständlich nuscheln, er, der die Handwerksregeln alter Schule so hoch gehalten hat, darf sie auch mal verletzen: Dann ist er ganz er selber.

Shakespeares Drama jedoch leidet darunter sehr. Die zunächst lächerliche Kränkung des Vaterstolzes löst ja ein Pandämonium des Grauens aus, das vielleicht Quadfliegsches Pathos vertrüge, aber nicht dieses etwas verhuschte, leise selbstironische Spiel mit sich selbst. Quadfliegs Lear bleibt ein komischer Kauz, nichts reißt ihn hinweg über die Grenzen des Alltäglichen, und sein irres Reden scheint eher von der Alzheimerschen als von der dämonischen Art. Mit fortschreitendem Wahnsinn schwindet dieser Lear auch dramaturgisch dahin, fast hat man ihn vergessen, als er doch wieder auftaucht, seine tote Tochter Cordelia auf dem Rücken schleppend. Andere haben die Tragödie vollendet, Sven-Erik Bechtolf etwa, der mit dem Schneid eines Unterstaatssekretärs als Bastard seine eigenen Geschäfte macht, ein nun wirklich böser, nicht nur blinder Spiegel der Cordelia, denn wie sie ist auch er ein Verstoßener, Benachteiligter.

Und weit tragischer als der irre Lear, der hier komisch sein möchte, war zuvor Wolf-Dietrich Sprengers Narr. Einen Seemannskoffer schleppt er mit sich herum, so groß ist seine Bürde und so leicht wiederum, denn das Requisit ist ein wahrer Zauberkasten, eine Trickkiste für tausend melancholische Clownerien. Die Regie ließ alles zu, sichtlich dankbar für die Ideen anderer, und Sprenger nahm sich die Freiheit, sein ganz eigenes Pantomimentheater mit Shakespeares Texten zu spielen.

Immerzu gichtig stakt Fritz Lichtenhahn als wunderbar harmloser Greis ins Verderben, und Hans Kremers nackter Wilder gehört gewiß auch in Shakespeares Repertoire an Theaterfiguren. Ob sie aber alle genau in diesem Stück diese Rolle spielen müssen, das ist weniger klar.

Flimm ließ sein Ensemble Shakespeare spielen, ein King Lear ist daraus noch nicht geworden, die drei Frauen vor allem scheinen ihren Platz nicht recht gefunden zu haben. Elisabeth Schwarz und Charlotte Schwab haben sich als Goneril und Regan für eine Mischung aus Frustration und Machtgier entschieden, die ziemlich rätselhaft bleibt. Und mit der übermäßig hochgelobten Annette Paulmann scheint wohl doch nur Robert Wilson richtig umgehen zu können. Er schätzt sie über alles und probt mit ihr sein Musical „Alice in Wonderland“, das Nachfolgestück des „Black Rider“. Annette Paulmanns Cordelia war nur im Nowhereland.

Shakespeare: „King Lear“, Regie: Jürgen Flimm, Bühne: Erich Wonder, mit: Will Quadflieg, Fritz Lichtenhahn, Christoph Bantzer, Hans Kremer, Sven-Erik Bechtolf, Wolf-Dietrich Sprenger, Annette Paulmann, Elisabeth Schwarz, Charlotte Schwab, u.a. Thalia Hamburg, nächste Vorstellungen: 20./21./22./24./27.10.

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