■ Dokumentation: Kriegsverbrechen in „Jugoslawien“
: Am Kainsmal sollt Ihr sie erkennen!

Wird die Geschichte dieses blutigen Jahrhunderts mit Sarajevo enden, wie sie mit Sarajevo begann? Lange Zeit glaubten wir, dieser Name sei mit dem Ersten Weltkrieg verknüpft, nicht mit der Gegenwart. Könnte die sogenannte Zivilisation aus ständigen Wiederholungen bestehen? Die Tragödie, die das ehemalige Jugoslawien zerreißt, ist ein Memento. Männer töten und werden getötet, wie immer an jedem Ort dieses Planeten aus ebenso unterschiedlichen wie wahnsinnigen Gründen, und die „Kulturgesellschaft“ läßt es geschehen. Wie und vor wem können wir unsere Wut zum Ausdruck bringen? Werden die großen Herren unserer Länder weiterhin mit wohlklingenden, aber nichtssagenden Worten spielen, statt den Tod Unschuldiger zu verhindern?

Als Jude, als einer von denen, die keine Hilfe erhielten, als sie sie brauchten, richte ich mich im gleichen Maße an mein eigenes Volk. Wir tun nicht genug. Wir sollten unsere Stimme erheben, wir sollten lauter und heftiger protestieren als alle anderen. Als Angehöriger der Menschheit wende ich mich an alle, denen Menschlichkeit kein leeres Wort bedeutet. Den Opfern aller Parteien, in allen Lagern, die Hilfe zu versagen, heißt sich selbst zu entehren. Ich weiß es gut: Häufig empfindet man nichts als Ohnmacht. Die Menschen sagen sich: Bosnien ist fern; Belgrad auch. Und außerdem, was kann ein einzelner tun, um den Lauf der Geschichte zu ändern? Ja, ich weiß. Es gibt auch die Gefahr der Wiederholung und der Abstumpfung. Wir sehen die ausgezehrten Gesichter von Gefangenen; wir sehen die Leichen auf den Straßen, und es sind so viele, daß wir uns daran gewöhnen. Wir sind informiert, aber die Information verwandelt sich nicht in Wissen. Wir wissen, aber es geht uns nichts an. Wir erkennen nicht, daß Gleichgültigkeit Schuld schafft.

Mit Sicherheit sind bis zu einem gewissen Grade überall entwürdigende Zustände zu finden. Alle Führer, mit denen ich als Gast der Londoner Jugoslawien- Konferenz sprach, gaben zu, daß niemand völlig unschuldig ist. Hier ermordeten Serben Moslems; dort rächten sich Moslems an den Serben. Und überall bezahlten Zivilisten die Zeche. Wie können wir gleichgültig bleiben gegenüber so viel menschlichem Leid?

Begrüßen wir den einstimmigen Beschluß des Sicherheitsrates, eine internationale Kommission zur Untersuchung und Beurteilung der Kriegsverbrechen in Jugoslawien einzusetzen. Diese Botschaft wird verstanden werden. Die Verantwortlichen für die Massaker werden wissen, daß ihre Verbrechen weder vertuscht noch vergessen werden. Die Kriegsverbrecher, die das Kainszeichen tragen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt wurden, werden überall verfolgt und als Feinde der Menschheit behandelt werden. Aber all dies muß jetzt schnell geschehen, wenn es helfen soll. Vergessen wir nicht: Jeder Tag, der vergeht, bedeutet den Verlust menschlichen Lebens. Elie Wiesel, Nobelpreisträger

Gekürzt aus „Newsday“, 13.10., Übersetzung M.B.