■ Debatte: Die SPD vor ihrem Sonderparteitag
: Ist Björn Engholm ein Ausländerfeind?

Stellen wir uns den gar nicht mehr unwahrscheinlichen Fall vor: Am späten Abend des 16. November stimmt die Mehrheit der Delegierten des SPD-Parteitags in der Asylfrage gegen die Parteispitze. Die „Petersberger Wende“ wäre verhindert – ein Sieg.

Stellen wir uns den Fall wirklich in aller Konsequenz vor? Der Parteitag hätte eine ungeheure Tragweite. Der Kanzlerkandidat wäre, wie es so seltsam heißt, beschädigt, das komplette Führungspersonal rücktrittsreif. Unschön, aber eine der minder schweren Folgen. Tatsächlich müßte am 17. November der Abgang der SPD als einer Partei gemeldet werden, die Einfluß auf den weiteren Gang der Asylrechtsdebatte hätte nehmen können. In den folgenden Monaten würde sie – nun endgültig „schuldig am Übel der Asylantenflut“ – unter den Druck einer hysterisierten Kampagne von rechts geraten und spätestens ein dreiviertel Jahr später doch einlenken.

Niemand empfiehlt gern eine Therapie, die darauf hinausläuft, dem Druck besser jetzt als später nachzugeben. Ich auch nicht. Wenn es um Fragen geht, die die zivile und humane Substanz der Gesellschaft berühren, wenn – wie jetzt – das demokratische Fundament sich als schwach und gefährdet erweist, dann kann es richtig sein, gegen die überbordende Stimmung in Verteidigungsstellung zu gehen und die Frage nach dem Durchsetzbaren hintanzustellen. Aber findet das wirklich statt? Wird nicht vielmehr der Streit ums Asyl zur Stimmungssache auch bei denen, die Stoiber, Seiters, Kohl (zu Recht) politische Stimmungsmache vorwerfen? Die SPD, wie so oft ein Seismograph, spiegelt das in fataler Weise wider.

Haarfein und für Nichtexperten kaum auszumachen sind die sachlichen Differenzen in der SPD. Niemand sperrt sich dagegen, den Artikel 16 zu überprüfen, wenn das im Kontext einer neuen Zuwanderungspolitik und der europäischen Harmonisierung nötig werden sollte. Dennoch steht Björn Engholm geradezu unter Generalverdacht, und ein tiefer Riß geht durch die Partei. Daß Petersberg ein undemokratischer Putsch war, daß der Parteivorsitzende nach klassisch-opportunistischem Bekenntnis den Hut der Partei wieder an das Volk anpassen will, das muß die Mitglieder herausfordern. Die Heftigkeit der Reaktion auf den (ja doch längst erwarteten) Reiz erklärt das nicht. Das dramatische Vokabular, von „Einknicken“ bis „Mitverantwortlich für den Mob“, fügt sich gut ins aufgewühlte Klima. Aber Björn Engholm ist, mit Verlaub, kein Ausländerfeind. Voller Affekte, aber Unsinn ist der Vorwurf an einen Kanzlerkandidaten, er schiele auf Regierungsfähigkeit. Es rührt treffsicher an die Emotionen, bei der SPD-Spitze die Bereitschaft zum Arrangement mit der Kanzlerpartei zu vermuten. Aber der Verstand sollte gelegentlich daran denken, daß ein neuer Zuwanderungskonsens ohne die Union sowenig geschaffen werden kann wie ohne die SPD. Täuscht der Eindruck, daß außerparlamentarisch mehr Energie auf den SPD-Parteitag verwandt wird, als darauf, Weizsäcker und Kohl am 7. November zur parteiübergreifenden Demonstration in Berlin zu bewegen?

Parteiinterne und externe Kritik verhalten sich zu den Kritisierten wie ein Spiegel. Der wirft verkehrt zurück, was ihm vorgehalten wird. Wagen sich die einen an Grundsätze, dann bleiben die anderen dabei, vorsichtshalber. Weil die einen den Artikel 16 ändern wollen, lautet bei den anderen die Kurzfassung der Grundsätze nunmehr: Wir halten daran fest, erst recht. Die Wirklichkeit wirkt gleich doppelt geleugnet. Sie sieht nämlich anders aus.

Erstens ist der Artikel 16 nicht zu halten. Der Bruch des bisher gültigen Konsenses ist besiegelt, weil die Union ihn nicht mehr will, weil die Liberalen nachgegeben haben, weil die SPD zu spät reagiert hat, weil die Grünen nicht über die „offenen Grenzen“ hinausgekommen sind. Wer trägt die größte Schuld? Das ist vergleichsweise uninteressant gegenüber der Verantwortung für einen neuen gesellschaftlichen Konsens, vor der auch die weniger Schuldigen stehen. Noch schwerer wiegt: Der Artikel 16 ist nicht zu halten, weil sich der praktische Umgang mit dem Grundrecht in rasantem Tempo Zuständen annähert, die den fremdenfeindlichen Verfechtern einer Asylrechtsänderung vorschweben. Unterderhand und jenseits jeder Kontrolle schreitet die Unterscheidung in „echte“ und „Scheinasylanten“ voran. Die große Zahl von Zuwanderern und das vergiftete Klima, wohlgemerkt beides, summieren sich zu einem dramatischen De-facto-Zustand. Pauschal, nach Herkunftsland, werden 80.000 Rumänen in einem halben Jahr „abgearbeitet“. Die individuelle Prüfung verkommt trotz geltenden Grundrechts. Ein weiterer Clou: Die Anträge der „aussichtsreichen Fälle“ bleiben liegen und liefern den Stoff für weitere Mißbrauchslegenden. Erniedrigende Zustände für die Flüchtlinge entstehen, und die Kluft zwischen Verfassungsanspruch und Wirklichkeit befördert den fortschreitenden Verfall der Sitten.

Zweitens reicht der Artikel 16 nicht aus. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, sagt der Artikel16, und das soll so bleiben. Kriege und Bürgerkriege, so ist zu befürchten, entwurzeln in den kommenden Jahren Zehntausende in Osteuropa und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Endlich eine Rechtsgrundlage, die solchen Flüchtlingen schnell vorübergehenden Schutz gibt, das wäre zu wünschen. Und zum Wünschenswerten gehört auch, daß ein Teil der Unzufriedenen aus den Ländern des zerrütteten Osteuropas sich hier ein menschenwürdiges Leben aufbauen kann. Asyl, der Status des Kriegsflüchtlings, Einwanderung – für diese drei Fälle müssen vernünftige Rechtsgrundlagen geschaffen werden. Wer das will, wird nach neuen Wegen suchen müssen. Sakrosankt ist dabei nicht der Artikel 16, sondern das individuell einklagbare Recht politisch Verfolgter auf Asyl – ein Unterschied.

Deshalb ist jedes Hände-weg- Motto kurzatmig. Eine Perspektive kann es nicht bieten, es verzichtet auf eigene Maßstäbe und reißt Gräben an den falschen Stellen auf. Unter den Befürwortern einer Artikel-16-Änderung gibt es genügend Leute, die Abwehr zum Credo der Asyl- und Zuwanderungspolitik machen wollen. Aber auch solche, die über das unerhört schwierige Problem nachdenken, wie denn das Recht auf Asyl einschließlich aller Rechtsmittel für politisch Verfolgte gesichert werden kann, wenn andere davon ausgeschlossen werden. Die darüber nachdenken, wie Kontrolle und Transparenz in den heimlichen Prozeß der Unterscheidung in „gute“ und „schlechte“ Asylbewerber gebracht werden kann. Die nach einem neuen Standard suchen, der für jeden einzelnen gilt, gleich aus welchen Gründen er hier ankommt. Wie leicht, Verrat zu schreien, wenn die Union die Genfer Flüchtlingskonvention an die Stelle des Grundrechts setzen will. Wirksamer ist, sie am Maßstab der Genfer Konvention zu messen. Aber leider ertappt nur der deutsche Vertreter des UN- Flüchtlingskommissars die Union bei ihren unentwegten Versuchen, unterhalb dieses Standards Recht neu zu formulieren und die Genfer Konvention als Instrument der Abwehr zu mißbrauchen.

Es wäre daher geradezu sträflich, wenn sich die SPD nicht an den Verhandlungstisch der Innen- und Rechtspolitiker setzt, die an den Grundlagen für ein neues Flüchtlings- und Zuwanderungsrecht arbeiten. Der Parteitag sollte dazu ein offenes Mandat erteilen. Tissy Bruns