Lengerich: Greenpeace warnt vor Verharmlosung

■ Dioxinverseuchung durch die abgebrannte Recyclinganlage ist erheblich

Lengerich/Düsseldorf (taz) – Bei dem Brand auf dem Gelände der Firma Microplast in Lengerich sind nach den Messungen der Umweltschutzorganisation Greenpeace größere Mengen giftiger Dioxine entstanden, als bisher von den Behörden festgestellt. In zwei Proben von Brandrückstanden direkt aus der abgebrannten Lagerhalle hat Greenpeace 9.200 und 13.700 Nanogramm Toxizitätsäquivalent (TE) Dioxin pro Kilogramm gemessen. Die von den Behörden ermittelten Werte lagen an der Brandstelle nach Angaben von Stadtdirektor Thomas Striegler dagegen nur zwischen 170 und 4.000 Nanogramm TE pro kg.

Nach Auffassung von Manfred Krautter, Dioxin-Experte bei Greenpeace, „muß der gesamte Brandplatz als absoluter Sondermüll“ behandelt werden. Die „eigentliche Gefahr“ gehe jetzt vom Abbruch der zerstörten Lagerhalle aus. Greenpeace fordert, daß während der Abbrucharbeiten mögliche Verwehungen durch den Aufbau eines Schutzzeltes ausgeschlossen werden. Eine solche Vorsichtsmaßnahme hält das Landesamt für Wasser und Abfall dagegen für Überflüssig. Auch das Düsseldorfer Umweltministerium sah am Freitag „an keinem Punkt“ einen Anlaß, die bisherigen Empfehlungen zu ändern. Für besonders gefährdet hält Greenpeace die mit dem Abbruch betrauten Arbeiter. Nach den Beobachtungen der Umweltschutzorganisation trugen die bei den Schweißarbeiten eingesetzten Personen am vergangenen Donnerstag nur einen Mundschutz. Krautter forderte die Behörden auf, diese „absolut unzureichende“ Schutzmaßnahme zu unterbinden. Offiziell, so erklärten Sprecher der Landesbehörden, wird der Abbruch nach „Sicherheitsstufe eins“ abgewickelt. Arbeiter würden „Schutzanzüge und Atemschutzmasken tragen“.

Daß die unmittelbare Umgebung der Brandstelle offenbar nicht so stark dioxinverseucht ist, wie nach dem Brand von 1.000 Tonnen PVC zunächst befürchtet worden war, hält Krautter lediglich den günstigen Wetterbedingungen zugute. „Der Sturm hat das Dioxin weit verteilt“.

Vor dem Verzehr von in der näheren Umgebung der Brandstelle angebautem Obst und Gemüse hat die Lengericher Stadtverwaltung inzwischen gewarnt. In Grünkohlproben waren bis zu 5,3 Nanogramm TE je Kilogramm Frischgewicht gemessen worden. Nach den Vorgaben der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Dioxine sollte die Belastung ein Nanogramm nicht überschreiten. Auch die in den Böden der anliegenden Gärten gemessenen Werte liegen derzeit erheblich über der vom Umweltbundesamt für unbedenklich erklärten Belastung. Die Berliner Behörde hält eine uneingeschränkte landwirtschaftliche Nutzung nur bei einer Bodenbelastung bis zu fünf Nanogramm TE Dioxin pro Kilogramm für unbedenklich. In den Anwohngärten wurde dagegen Werte zwischen 1,6 und 56,9 Nanogramm pro Kilogramm gemessen.

Während Greenpeace und die Grünen im Düsseldorfer Landtag nach dem Brand erneut ein Verbot von PVC-Produkten forderten, wies Düsseldorfs Umweltminister Klaus Matthiesen während einer von den Grünen beantragten Aktuellen Stunde die Forderung im Landtag als „populistischen Schnellschuß“ zurück. Einen scharfen umweltpolitischen Kurs gegen die Interessen der Chemieindustrie traut sich die Düsseldorfer Landesregierung angesichts von 200.000 Arbeitsplätzen in der Branche allein in NRW nicht zu.

Bei den während des Brandes eingesetzten Polizisten und Feuerwehrmännern grassiert unterdessen die Angst vor erheblichen Gesundheitsschädigungen. „Viele Polizeibeamte haben Angst, daß sie bei dem Brandeinsatz verseucht worden sind“, sagte Wilfried Lonnemann, Personalratsvorsitzender der Kreispolizei in Steinfurt. In den örtlichen Zeitungen warfen Feuerwehrleute den Behörden vor, man habe sie „bei den LÖscharbeiten ins offene Messer laufen lassen“. Inzwischen hat eine Polizistenwitwe, deren Mann am 8. Oktober, vier Tage nach dem Brand, überraschend gestorben war, Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt. Sie glaubt nicht, daß ihr verstorbener 55jähriger Ehemann, der einen Tag nach Ausbruch des Brandes für die 600 Meter vom Brandherd entfernten Absperrungen verantwortlich war, einem „Herzinfarkt“ – so die erste Diagnose – erlegen ist. Es war Dioxinvergiftung, vermutet die Ehefrau. Wegen der Strafanzeige wurde eine Obduktion der Leiche angeordnet. Mit einem Ergebnis wird in dieser Woche gerechnet. Walter Jakobs