„Es muß eine internationale Intervention durch UNO-Truppen zur Öffnung der Lager geben“

■ Interview mit Tilman Zülch, Vorsitzendem der Gesellschaft für bedrohte Völker, der im kroatischen Karlovac mit Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina sprach

taz: Herr Zülch, Sie haben gerade mit ehemaligen KZ-Insassen gesprochen, Menschen, die Folterungen ausgesetzt waren und die durch für sie glückliche Umstände fliehen konnten. Was haben Ihnen diese Menschen erzählen können?

Tilman Zülch: Diese Leute sind gerade einer Situation enflohen, in der Menschen systematisch vernichtet werden. Von sehr vielen sind konkrete Antworten zu erhalten, über einzelne Massaker, über Mordtaten. All das hat sich ihnen eingeprägt, sie wissen die Namen der Toten noch ganz genau.

Ist nach diesen Befragungen das ganze Ausmaß der Verbrechen in Bosnien aufgedeckt?

Sicherlich nicht. Aber schon jetzt läßt sich sagen, daß der Terror System hat. Im westlichen Bosnien sind Einheiten der Armee und der Freischärler systematisch gegen die muslimanische Bevölkerung vorgegangen, sie sind in die Dörfer gegangen, haben zunächst die Männer, dann die Frauen und Kinder verschleppt. Bei diesen Verschleppungen wurden Morde, Vergewaltigungen, andere Folterungen begangen. Manchmal wurden Nachbardörfer zunächst in Ruhe gelassen, doch einige Wochen später erfuhren deren Bewohner ein ähnliches Schicksal. Die Region des westlichen Bosniens ist, wie die Tschetniks sagen, „gesäubert“ worden. Sie verwenden übrigens häufig selbst den Begriff „schlachten“. Neben den Muslimanen wurden auch die dort in geringerer Zahl ansässigen Kroaten, aber auch „Jugoslawen“ – die meist aus gemischten Familien stammen – ermordet; des weiteren Serben, die sich für ihre muslimanischen oder kroatischen Nachbarn eingesetzt hatten.

Sind auch andere Minderheiten wie die Roma betroffen?

Islamische Roma hatten zunächst das „Privileg“, in eigene Ghettos eingewiesen zu werden; jetzt sind sie angesichts der ökonomischen Lage vom Hunger bedroht. Kleinere Gruppen wie Ukrainer und Ruthenen und Italiener in Prijedor sind ebenfalls „gesäubert“ worden. Einige Ukrainer sollen sich auf die Seite der Serben gestellt haben, um nicht weiter verfolgt zu werden. Es handelt sich bei diesen Nationalitäten aber nur um Minderheiten.

Es gibt bei den „Säuberungen“ anscheinend einen bestimmten Ablauf. Nach der Eroberung wird die Intelligenzija in Lager gebracht, junge Frauen und Männer ausgesondert. Frauen werden vergewaltigt und viele von ihnen in Bordelle gebracht. Alle übrigen müssen ein Dokument unterschreiben, in denen sie auf ihren Besitz verzichten. Gibt es für diese Verbrechen einen Plan, eine klare Befehlsstruktur von oben?

Die absolute Planmäßigkeit, wie sie in Nazideutschland oder in der stalinistischen UdSSR charakteristisch war, ist so nicht vorhanden. Die Tschetnikverbände bestimmen selbst, wie sie vorgehen. Und sie gehen ungeheuer grausam vor. Die Repräsentanten der Bevölkerung, die Intellektuellen, werden in der Tat zuerst verfolgt, die islamischen Hodschas wurden oftmals durch die Bevölkerung versteckt. Richtig begonnen hat die große Liquidierungswelle erst nach der Veröffentlichung über das Lager Omarska, Anfang August. Um die Spuren zu verwischen, wurden die Gefangenen in Konvois abtransportiert. Gerade während dieser Transporte sind ungeheure Verbrechen begangen worden. Nachdem ein Fernsehteam das Lager besucht hatte, sind z.B. am 24. August in Keraten in der Region Prijedor 300 Leute, die alle in einem Raum zusammengepfercht waren, der Hitze ausgesetzt worden, so daß viele bewußtlos wurden; nachts wurden dann Tränengasbomben in diesen Raum geworfen, worauf 92 erstickten. Dann haben Wachmannschaften mit Dumdumgeschossen in die Zellen geschossen, worauf 57 Menschen verbluteten. Ein Zeuge kam anschließend nach Trnopolje – das sei dagegen ein Erholungslager gewesen. Auch dort werden die Frauen vergewaltigt. Frauen sind verschwunden, sind in speziellen Lagern konzentriert, in Gasthäusern werden Frauen von Tschetniks festgehalten, schwangere Frauen werden erst dann, wenn überhaupt, freigelassen, wenn eine Abtreibung nicht mehr möglich ist.

Wie schätzen Sie die gegenwärtigen Aktivitäten der UNO und der Hilfsorganisationen ein?

Als Herr Vance und Herr Owen im September in Banja Luka waren, wurden während dieses Besuchs kaum 50 km entfernt Menschen liquidiert. Die gelegentlichen Besuche der UNO oder des Roten Kreuzes bringen die Tschetniks nur zum Lachen. Es wird jetzt eine flexiblere Strategie der Vernichtung durchgeführt, es werden kleinere Lager in entfernten Regionen eingerichtet, während einige der großen für Inspektionen freigegeben werden. Die Verbrechen geschehen jetzt auch im Rahmen der Konvois, die Flüchtlinge in die Gebiete der Gegenseite bringen sollen. Waffenfähige Männer werden ausgesondert und liquidiert. An der Straße von Skendervakof (Koradzani) nach Travnik ist ein Massengrab eingerichtet worden. Angeblich sollen dort nach Zeugenaussagen 3.000 bis 5.000 Menschen liegen. Die Leute, die dort begraben sind, waren in den Lagern von Prijedor, Banja Luka, Klujc und anderen Orten der Umgebung interniert worden. In der Region Prijedor sollen von früher 67.000 Nicht-Serben nur noch 3.000 am Leben sein. Herrschte bisher der Terror vor allem in den Gebieten, in denen die Muslimanen die Mehrheit der Bevölkerungen stellten, geht jetzt die Tendenz dahin, auch die Gebiete, wo Kroaten und Muslimanen in der Minderheit sind, mit Terror zu überziehen. Aber auch Serben werden zunehmend von Tschetniks terrorisiert.

Wie kann man nach Ihrer Erkenntnis das Ausmaß der Verbrechen quantifizieren?

Ich war ausgegangen von 150.000 Toten in Bosnien. Es ist interessant, daß der serbisch-orthodoxe Metropolit von Sarajevo, Nikolai, diese Zahlen bestätigte.

Der hat das aber dementiert...

Er hat dies aber gesagt in einem Fernsehinterview. Neben dieser Zahl von 150.000 toten Zivilisten, die natürlich aufgrund der Zeugenaussagen hochgerechnet ist, gibt es ja noch die Kriegstoten. Vergessen Sie auch nicht, daß bei der Eroberung Dörfer und Städte systematisch zerstört werden.

Was kann denn überhaupt getan werden, um den Menschen in Bosnien zu Hilfe zu kommen?

Ich wundere mich, daß deutsche Intellektuelle von einer Intervention abraten. Ich finde es erschreckend, wie große Teile der Friedensbewegung schweigen oder mit dem Hinweis auf Verbrechen der anderen Seite ihr Nichtstun entschuldigen; oder auch, wie die Kirchen agieren. Es muß eine internationale Intervention von UNO- Truppen geben, mit dem Ziel, die Konzentrationslager zu öffnen, Korridore für die Versorgung der großen Städte herzustellen und die Grenze zu Serbien abzuriegeln. Interview: Erich Rathfelder