Nachschlag

■ Harry Rowohlt liest „Pu, der Bär“

Schon der Raum ist wie gemacht für große Kinder. Und es haben sich viele dort eingefunden, um an diesem Abend einen phantastischen Ausflug in ihre Vergangenheit zu unternehmen. Raus aus dem Spiegelzelt der Bar jeder Vernunft, hinein in den Hundertsechzig-Morgen-Wald, in dem Pu, der Bär, seine Abenteuer erlebt.

Noch ist der kleine Tisch mit dem Mikrophon leer, noch sind die Erwachsenen erwachsen. Viele abgegriffene Bücher liegen vorne auf dem Tisch, und sie halten Pu und Ferkel und Christopher Robin noch unter Verschluß. Bis endlich einer hinter dem Vorhang an der Rückwand hervortritt, sich auf das filigrane Stühlchen setzt und brummbärig ein erstes Räuspern in den Raum schickt. Da erwachen sie zum Leben, verteilen sich zwischen den Stuhlreihen und treiben ihr traumhaftes Unwesen.

Harry Rowohlt liest „Pu, der Bär“. Und er liest ihn mit jener knarzigen tiefen Stimme, die wir alle, die wir wie gebannt vor ihm hocken, von unseren alten Grammophon-Platten her kennen: „Kapitel zwei, in dem Ru und Ferkel auf die Jagd gehen und beinahe ein Wuschel fangen“. Neben dem bärtigen Hünen mit der Halbbrille steht eine Kaffeetasse. Aus ihr nimmt er gelegentlich einen kleinen Schluck, bevor er eine Seite umschlägt oder wenn Pu gerade Rast von der gefährlichen Wuschel-Jagd macht. Es sind wenige Kunstpausen, die den anheimelnden Fluß dieses Abends nicht behindern können. Es ist der Fluß in den Tagtraum unserer Kindheit hinein. „Ist das Känga ein eher wildes Tier?“ fragen wir uns und bangen ein wenig um Ferkel, das sich todesmutig und leichtfertig in den Beutel eines Känguruhs begeben hatte.

Mit den umgeblätterten Seiten und den dahineilenden Geschichten scheint es unmerklich dunkler im Spiegelzelt zu werden.

Das Publikum lehnt sich entspannt zurück, macht es sich bequem und vergißt irgendwann irgenwie sogar das Nach-vorne- Blicken. Warum auch sollen wir diesem langhaarigen, zottelbärtigen Pu, dem Rowohlt, auf die Lippen schauen, wenn wir doch soeben von seiner Stimme in unsere Kindheit hineingeschmeichelt wurden?

Es fehlte nur noch das Knistern auf der alten Schellackplatte, und man läge wieder zu Hause in seinem Kinderbett, rollte sich, frisch gebadet und noch mit dem minzigen Geschmack von Zahnpasta im Mund, in seine Decke ein und schlummerte irgendwann irgendwie in den Hundertsechzig-Morgen-Wald. Dorthin, wo sich es gerade Christopher Robin bequem gemacht hat, und wo Pu der Bär, sein allerbester Freund, noch ein Weilchen wach bleibt und „an große Dinge über gar nichts denkt“. Wir tun es ihm gleich, bleiben noch ein kleines bißchen in diesem wundersamen Zelt hocken, als Harry Rowohlt seinen Pu schon lange wieder eingepackt hat, und werden nur langsam wieder wach. Und erwachsen. Und traurig, daß alles so schnell vorbeiging. Klaudia Brunst