Lesen und reden gegen das Vergessen

■ In der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“ werden ehemals verbotene Bücher gesammelt/ Infos und Nachdenken über die Vergangenheit/ Betroffene erzählen über ihre Erfahrungen

Mitte. „Zu Anfang hatte ich das Gefühl, gleich kommt ein Herr und faßt mir auf die Schulter“, erzählt Ilse-Dore Gissler, als wir vor dem Regal stehen, in dem Bücher über Stalin darauf warten, gelesen zu werden. Noch vor drei Jahren, von vielen schon verdrängt oder vergessen, waren dies verbotene Bücher. Die Idee, Publikationen über Ursachen und Folgen des Stalinismus zu sammeln, kam von der Slawistin Ursula Popiolek kurz nach der Wende in der ehemaligen DDR. Sie ist die Initiatorin der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“.

„Ich komme mir vor, als sei ich erst 1989 geboren worden“, stellt sie fest. Für sie und ihre Kollegin Ilse-Dore Gissler war der Fall der Mauer ein großes Glück, denn endlich können sie Bücher in den Händen halten, für die sie früher noch in den Knast hätten kommen können. In den Irrungen und Wirrungen der Wendezeit schlüpfte Ursula Popiolek in diese Nische und schuf ein historisches Kleinod. Belletristik und Sachliteratur über die stalinistische Vergangenheit in der Ex-Sowjetunion und der Ex- DDR bilden den Schwerpunkt, ebenso wird Häftlings- und Lagerliteratur gesammelt. Aber nicht nur das. Denn die Bibliothek in der ehemaligen Kneipe „Zum Bullenwinkel“ dient auch als Begegnungsstätte für Betroffene, die sich ihre meist leidvollen Erlebnisse von der Seele reden können. Effi Hartenstein beispielsweise, eine Lektorin aus der Schweiz, nutzte die ruhige Atmosphäre in der Gedenkbibliothek, um sich mit Frauen zu unterhalten, die von ihrer Zeit in sowjetischen Internierungslagern in Deutschland nach 1945 berichteten.

Mindestens alle vierzehn Tage finden Vorträge und Lesungen zum Thema statt, wie zum Beispiel von Konrad Löw, Jurist und Marx- Kenner aus Bayreuth. Einer der wenigen, der über die ersten 50 Seiten des „Kapitals“ von Marx hinausgekommen ist und so mit viel Witz und Ironie hartgesottene Marxanhänger ins Schleudern brachte.

Die Bibliothek, klein aber fein, hat etwas Familiäres. „Und diesen Kammercharakter möchten wir auch erhalten“, so Ursula Popiolek. „Wir erfahren immer mehr Zulauf, es kommen ungefähr 15 Interessierte pro Tag. Bei Veranstaltungen müssen wir auch schon mal in größere Räume ausweichen, beispielsweise als Wolfgang Leonardt, Autor des Buches ,Die Revolution entläßt ihre Kinder‘, einen Vortrag hielt.“ Die Spezialbibliothek ist in hellem Kiefernholz gehalten, mit einer Galerie als zweite Etage, um Platz zu schaffen für die mittlerweile auf rund 4.000 Exemplare angewachsene Sammlung, die zum größten Teil aus Spenden besteht. Im Keller befindet sich ein kleiner Raum, in dem Zeitschriften gesammelt werden.

Mit der Idee begann alles 1989. Ursula Popiolek schaffte es zu Anfang, 150.000 Mark Spendengelder zu sammeln. Bis die Umbauarbeiten begannen, hatten die Räume zehn Jahre lang als Lagerraum für Holz gedient. Im Dezember 1990 konnte die Bibliothek endlich ihre Eröffnung feiern. Vorerst erhielt sie Unterstützung vom Neuen Forum und finanzierte sich vier Monate lang aus Projektmitteln des Senats, bis im Januar 1992 ein Förderverein gegründet wurde, der von der Senatsverwaltung für Kultur unterstützt wird. Das beinhaltet auch zwei feste Gehälter und eine ABM-Stelle, außerdem Mittel für Veranstaltungen und Bücher, so daß rund 40 Exemplare pro Monat gekauft werden können.

Schwierigkeiten stellten sich ein, als der Besitzer des Hauses auftauchte und mit einer Zwangsräumung drohte. Ende des Jahres läuft der Mietvertrag aus. „Das Projekt ist jedoch mittlerweile so angesehen, daß ich davon ausgehe, daß wir hier bleiben können“, erklärt Ursula Popiolek mit ihrem von Anfang an nicht nachlassenden Optimismus.

„Wir müssen uns allerdings von anderen Bibliotheken abgrenzen“, erklärt Ursula Popiolek. Denn jede andere könne den kleinen Bestand schlucken. „Unser Motto lautet: Überleben durch Andersartigkeit.“ Und ein weiterer Grundgedanke: Überparteilichkeit und Parteiunabhängigkeit. Denn Betroffene müßten auf neutralen Boden kommen, um Vertrauen zu fassen und reden zu können.

„Wir versuchen immer, unseren Optimismus nach außen zu tragen“, sagt Ursula Popiolek. „Wir lebten in einer Diktatur und freuen uns, daß Demokratie jetzt – trotz aller Schwierigkeiten – möglich werden könnte. Zu DDR-Zeiten verkauften die Leute ihre Würde.“ Susanne Landwehr

Adresse: Hausvogteiplatz 3/4, O-1080 Berlin, Tel.: 208 23 39, Öffnungszeiten: Di./Do. 13-18 Uhr, Mi. 10-15 Uhr, das Veranstaltungsprogramm liegt dort aus.