: Von wegen Expressionist
■ Der „ganze Schmidt-Rottluff“ beinhaltet mehr
Wiederzuentdecken gilt es diesen Künstler sicher nicht: Das Werk Karl Schmidt-Rottluffs wurde in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Ausstellungen umfangreich dokumentiert; sein Nachlaß ging ans Berliner Brücke-Museum und ist dort in besten Händen. Trotzdem vermag eine Retrospektive in Düsseldorf jetzt doch noch ganz neue Einblicke in sein Schaffen zu vermitteln. Im Mittelpunkt der Bilderschau in der dortigen Kunsthalle nämlich steht erstmals exemplarisch der „ganze Schmidt-Rottluff“– und nicht allein der große Expressionist, als der der gebürtige Chemnitzer bislang hauptsächlich gefeiert wurde.
Möglich machte dies die Öffnung der Mauer. Durch sie wurde eine fruchtbare Kooperation möglich, die allerdings schon vor der deutsch-deutschen Vereinigung geplant worden war. Damals noch mit der Düsseldorfer Partnerstadt Karl-Marx-Stadt hatte Kunsthallendirektor Jürgen Harten bereits vor vier Jahren das aufwendige Ausstellungsprojekt überlegt. „Wir wollten versuchen, den Aspekt der Avantgarde im Werk Schmidt-Rottluffs zu entideologisieren“, erläutert Harten seinen kunsthistorischen Ansatz. Waren bisher die zwei Drittel der Arbeiten Schmidt-Rottluffs, die nicht die führende Rolle des Brücke-Mitbegründers im Deutschen Expressionismus belegten, als weniger bedeutend angesehen worden und in den Ausstellungen nur spärlich vertreten, will Harten nun vor allem dem Maler Schmidt-Rottluff in seiner künstlerischen Individualität Beachtung schenken.
Dessen postimpressionistisches Frühwerk war zunächst in pastosfarbigen Landschaften und Portraits am Erlebnis der Bilder Vincent van Goghs orientiert. Nach einer Anlehnung an Munch, Matisse und Kirchner wandte er sich schon um 1926 deutlich vom Stil des avantgardistischen Expressionismus ab. Reisen nach Paris und ins Tessin und der Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom finden Eingang in Schmidt-Rottluffs Bilder. Ab 1930 beginnt er, ähnlich wie Karl Hofer, sich mit den Möglichkeiten des Klassizismus auseinanderzusetzen. Raum und Licht bekommen die Bedeutung, die vorher Farbe und Fläche hatten. Der Expressionismus ist Geschichte geworden.
1937 werden auch 608 Werke Karl Schmidt-Rottluffs als „entartet“ aus den deutschen Museen entfernt. 1941 untersagt ihm der Präsident der Reichskammer der bildenden Künste „... mit sofortiger Wirkung jede berufliche – auch nebenberufliche – Betätigung auf den Gebieten der bildenden Künste“. Zwei Jahre später vernichtet eine Brandbombe im Berliner Haus der Schmidt-Rottluffs eine große Zahl von Bildern, Grafiken und Dokumenten. Die Düsseldorfer Ausstellung zeigt aus dieser Zeit ein kleinformatiges Selbstbildnis von 1944. Aus einer dickrandigen Brille blicken tote Augen. Tiefe Sorgenfalten haben sich in Stirn und Gesicht des Malers eingegraben. Die sonst auf allen Leinwänden gut sichtbare selbstbewußte Signatur Schmidt-Rottluffs fehlt.
Bewußt und zu Recht verweist in seinem Beitrag für den richtungweisenden Katalog Hans-Werner Schmidt auf die Bedeutung, die Karl Schmidt-Rottluff nach dem Krieg bis zu seinem Tod im August 1976 hatte: Vertreter der „Neuen Figuration“ wie Hödicke und Norbert Tadeusz stehen mit ihrer das Volumen und die Behandlung von räumlicher Einheit und Oberflächenverschmelzung betonenden Kunst in seiner Tradition. Diese Verbindung zur Gegenwart machte erst die Öffnung der Archive im Osten der Republik möglich: Ein großer Teil des Spätwerks wird dort aufbewahrt. Die Bedeutung, die vor einigen Jahren die große Baseler Ausstellung für die Rezeption des Spätwerks von Picasso hatte, kommt so dem Düsseldorfer und Chemnitzer Projekt für die Beurteilung Karl Schmidt- Rottluffs zu. Stefan Koldehoff
Karl Schmidt-Rottluff – der Maler. 10.10. bis 6.12. 92 Städtische Kunsthalle, Düsseldorf; 10.1. bis 27.3. 93 Städtische Kunstsammlungen Chemnitz; 14.4. bis 18.7. Brücke-Museum Berlin
Katalog: 280 Seiten mit 136 Farbtafeln und zahlreichen s/w-Abbildungen. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, Paperback, 48 DM
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