Eins, zwei, viele Welten

Zur Uraufführung des Stücks „Weimarland“ von Bruno Bayen im ThéÛtre de la Bastille in Paris  ■ Von Sabine Seifert

Kurz vor der Abfahrt des Zuges haste ich in die Bahnhofsbuchhandlung Berlin, Zoologischer Garten. Die Züge sind immer noch nicht viel schneller als zu DDR- Zeiten, und die lange Reise macht deutlich, was man im Flugzeug so schnell vergißt: Berlin liegt tatsächlich weit im Osten – Paris ist fern. Mich plagt die Angst vor Langeweile, öde Blicke auf öde Natur, ich mache mich auf die Suche nach kurzweiliger Lektüre. Dabei entdecke ich, was für eine Fundgrube die Wiedervereinigung für den Kriminalroman bedeutet: Akten, Leichen und Kassiber haben Konjunktur und sind so zahlreich wie die Seen um Berlin, in denen sich im Trüben der Geschichte fischen läßt. Ex-Kommunisten, Ex-Nazis, Ex-Stasi-Spitzel, Ex-Terroristen, Hauptsache ex und hopp, exitus DDR.

Kurzum, die jüngste deutsche Geschichte, die schließlich eine lange Vorgeschichte hat, bietet dramatischen Stoff in Hülle und Fülle. Doch nicht nur Kriminalautoren wittern Morgenluft und Leichenduft, auch die Dramatiker können wieder Geschichte verhandeln und sie auf die philosophische Weltbühne hieven. Einer schreibt noch (oder kürzt vermutlich gerade): Rolf Hochhuth mit seinen „Wessis in Weimar“, die Einar Schleef im Januar im Berliner Ensemble morden soll. Nun ist im Ausland das erste Stück über das wiedervereinigte Deutschland aufgetaucht, oder zumindest stelle ich mir so etwas vor, wenn ich den Titel höre: „Weimarland“ stammt aus der Feder des Schriftstellers, Dramatikers und Regisseurs Bruno Bayen, der sein Stück im Rahmen des Festival d'Automne am Pariser ThéÛtre de la Bastille auch selbst inszeniert hat.

„Ich wollte weder ein Stück über Deutschland schreiben, noch wollte ich einen französischen Standpunkt, einen Blick von außen auf Deutschland liefern“, widerspricht mir der Autor und Regisseur am Tag, nachdem ich seine Aufführung gesehen habe. „Das wäre mir zu didaktisch und auch zu anmaßend. Ich hatte Lust, über die Teilung und Vereinigung der Welt oder besser der Welten heute zu schreiben.“ Er bittet mich an diesem kalten und grauen Pariser Sonntagmorgen in sein mit Büchern vollgestopftes Arbeitszimmer. Bruno Bayen ist um die Vierzig, ein Parteigänger der 68er Revolte. In Osteuropa ist er früher dennoch nicht gewesen. „Ich bin aber sehr oft in Deutschland, auch in Ostberlin, gewesen“, erzählt der Autor, der deutsche Literatur studiert und Wedekind und Goethe ins Französische übertragen hat. Zur Zeit übersetzt er Handke. „Als ich das erste Mal nach Berlin kam, das war 1972, hatte ich wenig Geld und sollte bei jemandem wohnen. Es war der 22.Dezember, elf Uhr abends und sehr kalt. Ich kam also in ein Appartement in Tempelhof, eine Wohnung ohne Elektrizität und Heizung. Die ganze Nacht sind die Flugzeuge über meinen Kopf hinweggedonnert – damals gab es den Flughafen Tegel noch nicht. Ich hatte den Eindruck, als herrsche Krieg.“ Für Bruno Bayen ist Berlin die Stadt dieses Jahrhunderts, weil sie die meisten Spuren der Geschichte trägt. Und doch hat er ein „abgeschlosseneres, provinzielleres Milieu“, hat er Weimar als Spielort gewählt.

Das Pflaster glänzt regennaß, eine nüchterne, flache Häuserfront zeigt das Eingangsportal eines Hotels im Stil der Fünfziger, seitlich ist in etwas altmodischen deutschen Schriftzügen der Name „Der Storch“ angebracht. Bayens Lebensgefährtin, die Brasilianerin Renata Siqueira Bueno, hat die Bühne für seine Inszenierung entworfen. „Man lacht heute darüber“, meint Bayen, „doch selbst wenn man anderthalb Stunden gewartet hat, es gab so etwas wie einen östlichen Luxus. Der Luxus war bloß nicht äußerlich.“

Etwas von dieser Haltung, einer Art inneren Würde, findet sich in den Gesten des Portiers Max Matuschek wieder, der Hauptperson in „Weimarland“. Er kehrt zu seiner einstigen Arbeitsstätte, dem mittlerweile geschlossenen Hotel, zurück und eröffnet es wieder – symbolisch zumindest. Liebevoll trägt Max Kerzenleuchter und andere Tischdekoration aus dem Haus und deckt die Tische. Andere Gäste als erwartet stellen sich ein. Der Schauspieler Gigi dall'Aglio, der Max Matuschek verkörpert, ist italienischer Herkunft. Er verleiht der Inszenierung mit seinem akzentgefärbten Tonfall – was ihm seitens des Kritikers von Le Monde ein empörtes „inécoutable“, „nicht mitanzuhören“, eintrug – und mittels der etwas schmierigen Gesten eines gealterten Gigolo (schön, aber nicht eitel) und abgehalferten Grand Seigneurs (groß, aber nicht reich) einen komischen, grelleren Zug. Es gebe keinen besonderen Grund, sagt Bayen später, warum er einen Schauspieler mit ausländischem Akzent gewählt habe: „Ich fand ihn einfach gut für diese Rolle. Ich habe mich an eine komödiantische Regel gehalten, wie in amerikanischen Filmen. Die Sprachprobleme sind mir egal.“

Die Umgebung des Portiers, der später sein Geschirr in die Mülltonne wirft, als man ihn zum Räumen zwingt, wirkt fahl und wie erstorben. Henny zum Beispiel, die aus dem RAF-Umfeld kommt und in die DDR geflüchtet war, ein völlig verhuschtes Wesen, eine „Madame Bovary des Terrorismus“, wie Bruno Bayen sie nennt: „Mit dem Terrorismus hat sie nur geflirtet.“ Sie stolpert verängstigt durch die Gassen, redet verwirrt in der dritten Person von sich. Soll sie sich stellen oder nicht? Am Ende erfährt der Zuschauer, daß man sie vergessen hat, sie war nie wichtig. Dann gibt es den Musiker Max, der sein Violoncello aus dem geschlossenen Hotel holen möchte, um im Westen Karriere zu machen. Der Portier setzt den einstigen Spitzel des Personals vor die Tür. Auftritt: Manfred Labonté und sein Vater, die sich für die rechtmäßigen Erben des Hotels halten, da sie einst von den Kommunisten enteignet worden seien. Manfred sieht aus wie ein kleiner Louis Quatorze in moderner Kleidung: mit Kniebundhose aus Leder, Weste und Umhang. Der junge Mann von heute mit den Ideen von gestern: „Wenn man das Erbe abschafft, bringt man die Menschheit ins Verderben.“ Der Erbanspruch der Labonté ist nicht zweifelsfrei: Er führt zurück auf die zwangsweise „Arisierung“ von jüdischem Familienbesitz.

Bayen reizt das Spiel nicht voll aus, er verzichtet darauf, die jüdischen Vorbesitzer des Hotels auftauchen zu lassen. „Ich wollte nicht, daß mein Stück zu dramatisch wird“, erzählt der Autor-Regisseur im anschließenden Gespräch. „Es sollte nicht zu verwickelt sein, im Sinne einer perfekten Komödie, wo dann plötzlich der verschwunden geglaubte Erbe auftaucht und so weiter. Ich wollte eine bestimmte Reinheit, darum habe ich auch gewisse Elemente oder Figuren wie zum Beispiel Henny nicht weiter entwickelt. Das Stück befindet sich eher im Zustand einer Zeichnung, es ist kein alles erfassendes Gemälde.“

Und so ergeht es mir dann auch: Zwar kenne ich tausend Details – ob Straßenumbenennungen, das Hütchenspiel, die im Niemandsland abgestellten Trabis oder die geflohene Terroristin als brave Kassierin im HO-Konsum, Bayen hat die deutschen Zeitungen fleißig verfolgt; das Gesamtgebilde erkenne ich dennoch nicht. Bayen hält Deutschland den Spiegel vor, nicht naturalistisch, nicht realistisch, sondern mit Abstand. Der allerdings ist genau errechnet. Deutschland abstrakt, Deutschland als europäischer Modellfall. „Deutschland steht exemplarisch für den Übergang von zwei Welten in eine Welt“, erklärt Bayen, „beziehungsweise eigentlich von zwei Welten in eine Welt, die in viele Welten zerfällt. Unsere ganze Kindheit und Jugend über haben wir mit dieser Idee gelebt, daß sich zwei Welten gegenüberstehen. Selbst wenn die Hoffnung, die sich bereits zu Anfang dieses Jahrhunderts in dieser anderen Welt kristallisiert hatte, möglicherweise längst gestorben war, gab es diese andere Welt – wie eine vage Utopie und auch als Bedrohung.“

Der ideologische Boden schwankt, auch in Frankreich, seitdem die Regierungen der realsozialistischen Länder Osteuropas wie ein Kartenhaus zusammengefallen sind. „Ich habe auf keinen Fall ein nostalgisches Stück schreiben wollen“, sagt Bayen, „aber wir befinden uns an einem außerordentlichen Punkt der Geschichte, und darüber nicht zu sprechen, wäre verkehrt. Ich finde, daß das Theater von der heutigen Welt handeln soll, nicht nur mittels Metaphern und Allegorien, die uns die Schriftsteller von gestern liefern; selbst wenn die Stücke nur zehn Jahre halten, reicht es nicht zu sagen, das steht schon bei Shakespeare.“

Bayens Thema: der Utopieverlust, das gefühlsmäßige Vakuum im postsozialistischen Europa, die ideologische Leerstelle, die hölzern und floskelhaft gewordene Sprache. Eine Vertreterin jener Spezies, die mal auf die Weltverbesserung gehofft hat: Cella. Sie klappert mit Cedric im Auftrag der neuen Holding, die auch den „Storch“ unter ihre Fittiche genommen hat, die ostdeutschen Städte ab. Auftritt im immer eleganten Kostüm der Geschäftsfrau, dann setzt sie sich an einen der von Max gedeckten Tische und fragt: „Ist der Platz frei? Oder hat man bereits die Angewohnheit verloren, sich einen Tisch auch zu teilen?“ Eine kleine Reminiszenz an die Zeiten der internationalen Solidarität, doch nach der Mahlzeit ist dieser Anflug von Sentimentalität schnell beiseite geschoben. Als Max die Rechnung serviert, ist sie empört. In der Erinnerung waren wohl Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit immer umsonst gewesen. „Jetzt könnt ihr uns nicht mehr daran hindern, zu träumen“, sagt sie, „aber jetzt will jeder doppelt Recht behalten, weil ihr uns betrogen habt... Ich nehme von dir in Anspruch, was ihr uns schuldet.“ Cella setzt Max erbarmungslos vor die Tür. Rache an einem Subjekt und einem Land, das für sie stets nur Objekt ihrer Träume war. Als hätte sie je einer darum gebeten!

„Cella hat dieselben Ideen gehabt wie wir“, sagt Bayen. „Sie ist so wie wir in ihrer Ernsthaftigkeit, aber auch in ihrer Gemeinheit. Eine Frau, die sagt, jetzt reicht es mir mit diesem Leben der Bohème, ich habe Lust, Geld zu haben.“ Cella ist entschieden und empfindsam, wo ihr Partner Cedric zynisch agiert und spricht. Wie bei einem running gag versucht Cedric sich an den Namen der verstörten Frau zu erinnern, Henny, die jemandem aus seiner eigenen linken Vergangenheit gleicht. Der einzige Realist und Träumer zugleich ist Max, der Portier. „Demokrat sein, heiße, zu akzeptieren zu verschwinden“, kommentiert er bissig seinen Rauswurf. Er hat sich Steine besorgt, wohl Mauersteine, die er wie Mondgestein preist. Oder Urgestein, wie er selbst – mit dem Unterschied, daß die Steine wohl noch Abnehmer und Käufer finden werden.

Bruno Bayen hat „Weimarland“ vor etwa einem Jahr geschrieben. Würde er heute eher ein Stück mit dem Titel „Rostockland“ schreiben? Er schüttelt den Kopf. „So ein Stück würde ganz andere Probleme berühren. Man müßte sich dem Thema der Gewalt in Bezug auf Le Pen, auf die französische Rechte stellen. Wenn man solche Themen, die absurde Gewalt, dieses ganze Durcheinander behandelt, verallgemeinert man schnell oder wird oberflächlich. Die Besitzfrage ist von sich aus philosophischer Natur.“ Bruno Bayen hat sein Stück irgendwo zwischen Poesie und Philosophie angesiedelt, mit Unschärfen, die aber präzise gearbeitet, keine Verfälschungen, Überhöhungen oder Projektionen sind. Es wirkt manchmal etwas blaß, das Stück wie auch seine eigene Inszenierung, dafür kommt es ohne geschichtsmythologisches Raunen aus. Und das tut in der heutigen Zeit wohl. „Es hat sich etwas verändert“, sagt Bruno Bayen, „damit muß man arbeiten.“

„Weimarland“ von Bruno Bayen, bis zum 25. Oktober, ThéÛtre de la Bastille. Vom gleichen Autor wird bis zum 28. November außerdem im Petit-Odéon (ThéÛtre de l'Europe) „L'enfant bÛtard“ gezeigt, ein Monolog des Hernando Colón, unehelicher Sohn des Columbus.