Anfällig für Willkür und personifiziertes Recht

■ Jelzin und Gorbatschow schlagen sich... und vergessen dabei Rußland und die Welt

Moskau (taz) – Nur wenige Russen nehmen ihn ernst, den neuerlichen Hahnenkampf zwischen Präsident Jelzin und Ex-Präsident Michail Gorbatschow. Kaum einer will dahinter politische Motive erkennen, wenn sich die beiden tagtäglich unaufhörlich Dreck ins Gesicht schleudern und damit noch Sendezeit in Anspruch nehmen. Für den Durchschnittsbürger ist die Sache klar: „Beide sind gewöhnliche, einfache Menschen, jeder kann seine Enttäuschungen über den anderen nicht überwinden. Sie stellen ihre Eitelkeiten zur Schau, ohne zu sehen, wie lächerlich sie sich machen.“

Dennoch gibt die Schlammschlacht zu denken. Es zeigt, wie schwach demokratische Strukturen der Konfliktaustragung in Rußland bisher verankert sind. Es offenbart die Anfälligkeit der einmal an die Macht Gelangten für Willkür und personifiziertes Recht. In diesem Konflikt manifestiert sich ein eklatanter Gesetzesnihilismus.

Gorbatschow war unter seinen Landsleuten nie beliebt. Kritik, die er in den letzten Wochen zunehmend an der Regierung übte, trägt nicht unmittelbar zu einem Popularitätsgewinn bei. Auch dann nicht, wenn viele Russen unter der Bürde der Jelzinschen Wirtschaftsreformen stöhnen. Referiert Gorbatschow in ausländischen Medien altklug über neu zu bildende verfassungsrechtliche Gremien, die der Gefahr einer Diktatur oder eines Autoritarismus vorbeugen könnten, dann schmunzeln die Russen – vorausgesetzt sie haben überhaupt zugehört. Noch allzu gut haben sie in Erinnerung, wie Gorbatschow, um die Demokratie zu retten, einen Verschwörerkreis unverbesserlicher Apparatschiks zu seinen engsten persönlichen Vertrauten machte.

Der Generalsekretär ist das Gesetz

Eigentlich sollte Gorbatschow erkennen, daß er mit seinen Angriffen auf den russischen Präsidenten gerade diejenigen unterstützt, deren Herrschaft nicht mehr mit der Jelzinschen Selbstherrlichkeit zu vergleichen sein wird. Gorbatschows Plus bleibt seine ungeheure Hochschätzung im Ausland, die er unaufhörlich dazu nutzt, gegen Jelzin Stimmung zu machen. Und wie soll man seine Weigerung werten, nicht vor dem Verfassungsgericht zu erscheinen, das die Rechtmäßigkeit des Verbots der KPdSU prüfen soll? Als Zeuge, nicht als Angeklagter, denn die gibt es in diesem Prozeß nicht. Die Russen, wenig vertraut mit Rechtsstaatlichkeit, bringen dafür kein Verständnis auf. Nun findet ein Prozeß statt, der sich mit der dunklen Vergangenheit der Partei befaßt und der der Öffentlichkeit nicht vorenthalten wird, und der Hauptzeuge der letzten Jahre sagt nicht aus! Im Gegenteil, er läßt dem Gericht mitteilen, daß es gar nichts zu melden hat. Gorbatschow sei das Gesetz, schließt der einfache Mann daraus. So war man das von den Generalsekretären bisher ja auch gewohnt. Für Sophismen, wie der Gorbatschowschen Argumentation, es handele sich um einen politischen, nicht aber um einen strafrechtlichen Prozeß, hat man in Rußland noch keinen Sinn. Statt dessen wächst das Mißtrauen, weit verbreitet ist die Überzeugung, daß auch im Rechtsstaat nicht alles koscher ist. Doch die Stärkung des Vertrauens in die Rechtsorgane – war das nicht das Anliegen der Perestroika?

Jelzin dagegen wirkt wie ein angeschossener Hund. Er beißt nach allen Seiten, fällt eine unkluge Entscheidung nach der anderen. Zu Hause hat es ihm noch nicht geschadet. Aber es gibt ein ungeschriebenes russisches Gesetz: Die Russen entwickeln blitzschnell ein Herz für Opfer. Man identifiziert sich mit dem, was man selbst zu sein glaubt. Darin liegt eine Dynamik, die Jelzin kennen müßte. Statt dessen offenbaren seine Anti-Gorbatschow-Aktionen völlige Hilflosigkeit. Sein letzter Vorstoß, Gorbatschows internationale Reputation zu brechen, indem er ihm die Unterschlagung von Akten über den Massenmord an polnischen Offizieren bei Katyn vorwarf, ist peinlich. Sogar dann, wenn die Beschuldigung sich als wahrheitsgemäß erwiese. Einen Mythos bekommt man nicht mit Fakten klein. International schädigt er sich selbst mehr als seinem Gegner.

Wie aber läßt sich das Verhalten Jelzins – das inzwischen auch mehrere seiner Minister kopieren – erklären? Befürchtet er seinen Sturz oder Machtverlust? In der Tat sind die Zeiten für den russischen Präsidenten innenpolitisch härter geworden. Er ist nicht mehr der unschuldige Sunnyboy, der „von unten“ kam. Schuld anderen in die Schuhe zu schieben, zieht heute nicht mehr. Seine Führung aber steht nicht auf dem Spiel. Zumal er vor kurzem eine Koalition mit gemäßigten Zentristen eingegangen ist, unter ihnen die Direktoren der großen Staatsbetriebe, die eine Verlangsamung der Reformen verlangten. Im Austausch dafür sicherten sie ihm politischen Geleitschutz zu.

Vor wenigen Tagen hat nun aber gerade Gorbatschow festgestellt, daß auch er diesen politischen Kräften aus der sogenannten „Bürgerunion“ nahestehe. Sitzen die beiden Streithähne also wieder im selben Boot? Oder sollten die Zentristen doch mehr wollen, als sie ursprünglich forderten? Dann wäre Jelzins Hysterie allerdings zu verstehen. Klaus-Helge Donath