„Ich habe kein anderes Heimatland“

Roma in einer deutschen Stadt: Als Gastarbeiter unerkannt, auffällig als Flüchtlinge/ Familie Durmisevski immigrierte in den 70er Jahren aus Jugoslawien/ Mit den Flüchtlingen aus Rumänien haben sie nur wenig gemein  ■ Von Thomas Gehringer

„Wir Roma sind hier bekannt geworden, seit Asyl beantragt wurde. Vorher hat sich niemand um uns gekümmert“, sagt Jusein Durmisevski, der 1972 im Alter von sechs Jahren als jugoslawischer Staatsbürger nach Düsseldorf gekommen war. Seit Vater war 1970 vom Arbeitsamt in Kumanovo bei Skopje/Mazedonzien zu einer Maschinenbaufirma nach Deutschland vermittelt worden und konnte seine Familie zwei Jahre später nachholen. Jusein, seine Frau Ljatife, die seit dem zweiten Lebensjahr hier aufgewachsen ist, sowie deren Kinder Charles und Leon gehören zu den knapp 300 Roma-Familien allein in Düsseldorf, die einst als Gastarbeiter aus Jugoslawien von der florierenden deutschen Wirtschaft angeworben wurden beziehungsweise von den damaligen Arbeits- ImmigrantInnen abstammen. So ändern sich die Zeiten: heute schickt die nordrhein-westfälische Landesregierung vor Jahren geflüchtete Roma aus Jugoslawien mit einem Aufwand wieder zurück – und zwar nach Skopje.

Die Durmisevskis leben heute in einer 66 Quadratmeter großen Mietwohnung. Die Einrichtung würde man wohl als typisch deutsch bezeichnen, wären da nicht einige ungewöhnliche Details: die mit Nippes vollgeladene, moderne Schrankwand, das in allen Bonbonfarben leuchtende Kinderzimmer. Ansonsten sind die Spuren der Assimilierung kaum zu übersehen: die stilvolle Couchgarnitur, das Foto vom Mallorca-Urlaub an der Wand und ein Familienbild in Westernkleidung – aufgenommen im „Phantasialand“, einem Freizeitpark nahe Köln. „Ich habe kein anderes Heimatland“, sagt Jusein über Deutschland. Irgendwann einmal, wenn der Staat die Hürden nicht mehr ganz so hoch setzt, will er seine Aufenthaltsberechtigung gegen einen deutschen Paß eintauschen.

Dennoch hat Jusein, der heute als Technischer Assistent für Konstruktions- und Fertigungstechnik bei einem zahntechnischen Unternehmen arbeitet und Mitglied bei der IG Metall ist, das Bewußtsein, zum Volk der Roma zu gehören, nicht aufgegeben. Die beiden Kinder lernen als Muttersprache erst einmal Romanes, Deutsch kommt später hinzu. Gemeinsam mit anderen Roma gründete er im März 1991 den Internationalen Kultur- und Sportverein der Roma „Carmen“. Er habe auf die Frage nach seiner Nationalität immer geantwortet, er sei ein Rom. Doch das habe ihn eigentlich von seinen deutschen Freunden und Bekannten während der Schul- und Ausbildungszeit sowie am Arbeitsplatz kaum jemand gefragt. Er galt eben als Jugoslawe; und wenn es doch jemand genauer wissen wollte, hat man es ihm nicht geglaubt.

Die Geschichte der Durmisevskis bietet manches Detail, das den deutschen Volksempfindern die Haare zu Berge stehen lassen müßte. Ljatife hat einige Zeit bei einer Versicherung gearbeitet – ausgerechnet als Kassiererin. Sie hat dieselbe Erfahrung gemacht wie ihr Mann: „Ich habe meine Herkunft nicht verheimlicht, aber die wollten das nicht wahrhaben.“ Wer nicht ins liebgewordene Bild vom Zigeuner paßt, kann keiner sein.“

Beizeiten sorgfältig verdrängt, können die Stereotypen bei günstiger Gelegenheit wieder ungehindert hervorbrechen. Etwa, wenn im Klima der Asyl-Hysterie rumänische Roma das Bild echter Armut in deutsche Städte und Gemeinden tragen. Auch Düsseldorf hat, oder besser: mußte solche Familien aufnehmen. In einer kleinen Container-Siedlung werden heute etwa 50 Männer, Frauen und Kinder von zwei städtischen Sozialarbeitern betreut. Die eine Hälfte steckt noch in laufenden Asylverfahren, die andere wird nach bereits abgelehntem Antrag vorerst „geduldet“. Als ungewöhnlich kann dieses Projekt schon deshalb gelten, weil sich kaum eine andere Stadt solcherart Integrationsbemühungen leistet. Freilich beweist auch die Stadt Düsseldorf keinen besonderen Langmut: nach drei Jahren ist im Sommer 1993 Schluß.

Weniger ungewöhnlich ist das Projekt zustande gekommen. Zuerst hatten die Familien – die ersten trafen schon 1986 in Düsseldorf ein – in einem recht zentral gelegenen Wohnheim gelebt. Die Nachbarn mochten dies nicht hinnehmen; am Ende beschloß die Bezirksvertretung, daß die Roma in ihrem Stadtteil „nur mit sozialarbeiterischer Betreuung“ weiter geduldet würden. Also landeten sie in Conatinern am Rande des Bezirks: mit den Nachbarn Autobahnzubringer, Wohnwagen-Verleih und Schrebergärten gibt es nun weniger Probleme. „Anfangs habe ich diese Ghettobildung sehr kritisch gesehen. Aber ich habe meine Meinung geändert“, sagt Sozialarbeiter Herbert Weber. „Es ist eben eine andere Kultur. Die Roma leben sehr viel draußen, hier können die auch mal laut sein.“ Und Kontakte zur Außenwelt bestehen durchaus, vor allem durch die Kinder.

„Niedrigste Kulturkenntnisse sind nicht bekannt“ – so waren die Roma den Projektmitarbeitern angekündigt worden. Heute besuchen zwei Drittel der schulpflichtigen Kinder Grund-, Haupt- oder Sonderschulen. Nachmittags bieten die Sozialarbeiter Freizeitaktivitäten an, gehen mit den Kindern auf den Spielplatz oder fahren einfach Straßenbahn. „Bei den Kindern sehe ich einige Erfolge“, sagt Herbert Weber. „Die sind total offen und gehen auch auf wildfremde Menschen auf der Straße zu.“ Mit den Klassenkameraden habe es bisher keine Schwierigkeiten gegeben, und in der Container-Siedlung hätten sogar schon deutsche Eltern mit ihren und den Roma- Kindern Geburtstag gefeiert. Auch für die Jugendlichen und die Erwachsenen gibt es Angebote. „Wohl das größte Erlebnis“ sei es für die Frauen gewesen, so Herbert Weber, als sie mit seiner Kollegin, aber ohne ihre Männer beim Besuch des Roma-Theaters Pralipe erstmals eigenständig von sich aus etwas unternommen hätten.

Doch Herbert Weber ist weit davon entfernt, die „Erfolge allzu groß darzustellen. Schließlich haben die Roma zwanzig, dreißig Jahre in einer ganz anderen Umgebung gelebt.“ Betteln und Klauen würden gelegentlich schon vorkommen. Aber: „Desto mehr Kontakt wir zu den Familien haben, desto weniger Schwierigkeiten gibt es.“ Die „Umgebung“, ihre ehemalige Heimat, beschreiben die Kinder, sofern sie sie noch selbst erlebt haben, kurz und prägnant: „Rumänien ist Scheiße.“ Sie hat die Überlebensstrategie der hier Zuflucht suchenden Menschen bestimmt. Alle Familien, sagt Herbert Weber, würden davon erzählen, daß den Roma in Rumänien die Häuser über den Köpfen angezündet würden. Seit dem Sturz Ceausescus hat es zahlreiche Pogrome in Rumänien gegen Roma gegeben. Von den knapp 275.000 Asylbewerbern, die in den ersten acht Monaten dieses Jahres nach Deutschland kamen, war jeder fünfte ein Rumäne, die meisten von ihnen Roma – mit wenig Aussichten auf Anerkennung. Denn Pogrome sind keine politische Verfolgung.

Und weil es in der Asyl-Diskussion überhaupt keine Rolle mehr zu spielen scheint, sei noch einmal daran erinnert: Während des von den deutschen Nationalsozialisten gestützten faschistischen Regimes in Rumänien von Ion Antonescu wurden zwischen 1941 und 1944 Zehntausende Roma deportiert und ermordet. Die schlichte Legitimation für solches Unrecht hat sich bis heute dank mangelnder Vergangenheitsbewältigung bestens erhalten und erfaßt noch im bundesrepublikanischen Rechtsstaat die Kinder der damaligen Opfer. Ein „von Grund auf böses Mädchen“ erkannte ein Düsseldorfer Richter in einer 21 Jahre jungen Roma-Frau, die angeblich eine Bluse auf einem Flohmarkt hatte stehlen wollen – was sie heftig bestritt. Doch da sie bereits einmal beim Schwarzfahren erwischt worden war, wurde sie bereits zwei Monate nach dem Vorfall von der Siedlung weg verhaftet und mehrere Wochen in U-Haft gehalten. Am Ende wurde sie zu zwei Wochen Jugendarrest verurteilt, weit weniger, als sie bereits abgesessen hatte.

Rumänische Roma treffen allerdings nicht nur bei Nichtzigeunern auf wenig Verständnis. „Ich bin selbst empört, daß Asylbewerber hier klauen gehen“, sagt Jusein Durmisevski. Er selbst würde seinen Mit- Roma gleich beim ersten Delikt die Tür weisen: „sofort raus“. Mit der zunehmenden Hatz auf Ausländer hat auch der Druck auf die bereits lange Zeit hier lebenden Roma zugenommen. „Die Deutschen sehen uns auch als Asylanten“, sagt Ljatifa Durmisevski, und beide haben im Alltag, beim Einkaufen oder in der Straßenbahn, entsprechende Erfahrungen gemacht. Daß der Verein „Carmen“ etwa Räume für seine Aktivitäten anmieten könnte, daran ist nicht zu denken. „Bis 1987 hatten wir über Deutsche nicht zu klagen, heutzutage kann man die Leute kaum noch nach der Straße fragen“, sagt Jusein Durmisevski. Er erinnert sich an seinen Vater: als der 1970 nach Deutschland kam, sei es noch viel zu gefährlich gewesen, einzugestehen, ein „Zigeuner“ zu sein. Selbst Bekannte, die ebenfalls in „Carmen“ aktiv sind und sich also als Roma bekennen, würden etwa in der Straßenbahn ein Gespräch mit ihm auf Romanes scheuen. „Die Verstecktheit ist immer noch da“, sagt Jusein Durmisevski. Ein Kontakt zwischen den alteingesessenen (ehemals jugoslawischen) und den jüngsten, um Asyl bemühten (rumänischen) Roma ist noch nicht zustande gekommen; das gegenseitige Interesse ist aber wohl auch eher bescheiden.

Auch in der Siedlung der deutschen Sinti herrscht nun wieder Angst und Wut auf die Roma, die angeblich so wunderbar in das Jahrhunderte sorgfältig bewahrte Zigeunerbild passen. Daß der Begriff Roma und Sinti in der Öffentlichkeit als Einheit gebraucht wird, macht die rund 260 in Düsseldorf seit Generationen lebenden Sinti „stinksauer“, wie Rudolf Kosthorst vom Jugendamt weiß. Und aus Furcht vor Übergriffen hätten sie ihre Reisen, die sowieso nur noch selten betrieben wurden, ganz aufgegeben.

Grund zur Angst haben aber auch die Roma in der Container- Siedlung. Das Abkommen zwischen der Bundesregierung und Rumänien über die Rücknahme von Asylbewerbern hat für erhebliche Unruhe unter ihnen gesorgt. Hinzu kommt die konkrete Bedrohung durch rechtsextreme Aktionen. Zwar sind noch keine Übergriffe vorgekommen, aber von einem parkenden Auto aus ist eine Gruppe Roma mit einer Waffe bedroht worden. Auch Nazi-Schmierereien sind aufgetaucht.

Ganz ähnlich, wenn auch nicht in dieser gewalttätigen Form, verlief die Auseinandersetzung um „Zigeuner“ bereits Mitte der achtziger Jahre, als Zehntausende von Roma vor Diskriminierung und Abdrängung an den Rand der Gesellschaft vor allem aus Jugoslawien flohen. Auch diese Roma, wie ihre rumänischen Verwandten heute, schienen so recht ins Zigeunerbild zu passen. Die ganze Palette rassistischer Phantasien wurde schon auf Bürgerversammlungen in den achtziger Jahren ausgebreitet, als die Städte Stellplätze für die wachsende Zahl der Roma einrichten wollten. In Köln etwa schrieb im Mai 1988 der Chef von Sony Europa an den Oberbürgermeister („Betr. Gewerbeansiedlungs- und Wohnattraktivität der Stadt Köln – hier: Zigeuner-Problem“) und drohte mit einer Umsiedlung der Firmenzentrale in die Niederlande. Nicht nur, daß Roma in der Nähe seines Arbeitsplatzes lebten, nun wollte die Stadt auch noch nicht weit entfernt von seiner Privatwohnung einen Durchreiseplatz errichten. Der Rassismus gegen Roma ist eben kein Phänomen der sozialen Benachteiligung und persönlicher Not.

Nur mühsam erkämpften sich diese Roma für einzelne Gruppen eine Perspektive in Deutschland. Auch hierfür gibt es in Düsseldorf ein Beispiel. Nach einem tagelangen „Bettelmarsch“ von Roma hatte die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen Anfang 1990 die Gewährung von Aufenthaltsrechten für eine größere Anzahl von Roma erwogen. Am Ende blieb nur ein fragwürdiges Projekt („Reintegrationsprogramm“) in Mazedonien übrig, in das die Roma trotz wochenlanger Protestaktionen vor dem Landtag hineingenötigt werden.

Unterm Strich konnten, rechtzeitig vor dem Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes, Lösungen in einzelnen Städten erreicht werden. Düsseldorf schloß Ende 1990 mit 87 Roma-Familien, zusammen rund 300 Personen, die an dem „Bettelmarsch“ teilgenommen hatten, „eine Art Vertrag“ (Rudolf Kosthorst). Dafür, daß ihr Aufenthalt regelmäßig um ein beziehungsweise zwei Jahre verlängert wird – mit der Perspektive: unbefristet – stellte die Stadt Bedingungen an die Roma. Sie sollten innerhalb eines Jahres von Sozialhilfe unabhängig werden, sollten ihre Kinder in die Schule schicken und keine kriminellen Delikte begehen. Bisher, so Rudolf Kosthorst, habe es noch keinen Anlaß gegeben, jemanden auszuweisen. 80 bis 90 Prozent hätten Arbeit gefunden, „sind häufig auch vor Drecksarbeit nicht zurückgeschreckt“. Hinter die Qualität und Dauerhaftigkeit der vermittelten Arbeitsplätze möchte der Ratherr der Grünen, Heinz Kupski-Martin, allerdings ein Fragezeichen setzen. Vor allem aber haben die meisten Roma noch keine Wohnung finden können, was bei dem leergefegten Wohnungsmarkt nicht weiter verwundert; also leben die allermeisten noch zur Miete in städtischen Übergangsheimen.

In Düsseldorf, und natürlich nicht nur dort, gibt es mithin ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen, die landläufig als „Zigeuner“ bezeichnet werden: alteingesessene Sinti, die längst in diese Gesellschaft integrierten Arbeits- ImmigrantInnen, die heimatlosen und seit Jahrzehnten durch Europa irrenden Roma, die vor Gewaltausbrüchen in Osteuropa flüchtenden Familien.

Und noch weit mehr. Wenige Straßen von der Wohnung der Durmisevskis entfernt, gibt es die einzige Roma-Kneipe weit und breit. Der Wirt stammt aus Skopje, hatte dort sein Diplom als Sportlehrer abgelegt, als Rom aber keine Chance auf eine Anstellung. Bei der Kölner Sporthochschule fand er mit seinem Zeugnis auch keine Anerkennung. Heute ist er mit einer Deutschen verheiratet und lebt in Düsseldorf. „Die Kneipe“, räumt er ein, „geht nicht gut.“ Viele Roma kämen nicht, weil sie sich nicht als Roma zu erkennen geben wollen. Und wenn einmal Deutsche hereinschauen, machen sie auf dem Absatz kehrt.