■ Mit Lenins Bronzehand auf du und du
: Lettland im Metallfieber

Riga (taz) — Dem lettischen Premierminister Ivars Godmanis riß offensichtlich der Geduldsfaden, als er zu Gehör bekam, was in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli vom Portal des Parlaments in Riga verschwunden war. Obgleich das Hohe Haus rund um die Uhr von Sicherheitskräften bewacht wird, hatten sich flinke Finger die schwache Straßenbeleuchtung zunutze gemacht und die Bronzetafel mit der Aufschrift „Oberster Rat der Republik Lettland“ entfernt. Da zu vermuten war, daß der oder die Täter die Tafel nicht aus nostalgischen oder sonstigen sentimentalen Gründen abgeschraubt hatten, sondern vor allem auf deren schnöden Metallgehalt aus waren, verfügte Godmanis – auch sonst für unorthodoxe und unabgesprochene Entscheidungen bekannt – stante pede ein uneingeschränktes Exportverbot für alle Buntmetalle. Das wurde allerdings einige Tage später aufgehoben und durch eine Verordnung des Ministerrates ersetzt, die vorsieht, daß nur noch wenige, eigens dazu ermächtigte Unternehmen Buntmetalle aufkaufen und ausführen dürfen. Dabei haben die Verkäufer die einwandfreie Herkunft ihrer Ware nachzuweisen.

Die Regierungsmaßnahme trifft einen Wirtschaftsbereich, der in der Ausfuhrstatistik Lettlands für das erste Halbjahr 1992 mit 347 Millionen Rubel und 5.200 Tonnen immerhin an 8. Stelle liegt; mehr als ein Viertel der lettischen Exporte in die Bundesrepublik Deutschland machen Buntmetalle aus. Buntmetallerze werden in Lettland nicht gefördert; in den allermeisten Fällen handelt es sich um Transitware beziehungsweise in der Baltenrepublik weiterverarbeitete Produkte oder Industrieschrott. Gerade letztgenannte Kategorie grenzt an einen Bereich, in dem die Aussicht auf schnell verdiente Westwährung eine nicht unbeträchtliche kriminelle Energie freisetzt, wovon die Polizeiberichte beredtes Zeugnis ablegen. So erklärte die Staatsanwaltschaft der Republik Lettland Ende Juli, daß zur Zeit allein in der Hauptstadt Riga 119 Verfahren wegen Diebstahls von Buntmetallen im Wert von fast 16,8 Millionen Rubel anlägen.

Beispielsweise kamen einer Spezialkran-Firma im März und April 1.600 Meter Kabel abhanden mit dem Ergebnis, daß mehr als zehn Kräne lahmgelegt waren. Anfang August wurden im Badeort Jurmala zwei Offiziere der im Lande stationierten russischen Streitkräfte ertappt, als sie ungerührt öffentliche Telefonleitungen aus der Erde gruben.

Auch die gestürzten Monumente der einstigen sozialistischen Heroen sind vor Buntmetallpiraten nicht sicher. Dem bronzenen Lenin etwa, der bis zu seiner Demontage am 25. August 1991 im Herzen der lettischen Hauptstadt den Weg in die kommunistische Zukunft wies, fehlte zunächst ein Finger, dann verschwand die ganze Hand.

Ein ganzer Arm wird am Denkmal für den gebürtigen Letten und ersten Justizkommissar der Oktoberrevolution, Peteris Stucka, vermißt. Notgedrungen mußten sich die Verantwortlichen der Stadt Riga, die die Objekte der ausrangierten Geschichte auf einem Lagergelände abgestellt hatten, zu einer Verlegung ihrer begehrten Schätze entschließen. rob.