piwik no script img

„Ein Ort der Schreibtischtäter“

■ Ausstellung „Steglitz im 3. Reich“/ Vergessen: das Wirtschaftsverwaltungshauptamt

Steglitz. Wer weiß noch, wer Oswald Pohl war? Der Chef des 1942 im Bezirk Steglitz gegründeten Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der SS, das unter anderem sämtliche Konzentrationslager verwaltete, wurde später in den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt – als einziger von 1.700 MitarbeiterInnen seiner Behörde. Diese hatten sich unter anderem mit der pfenniggenauen Berechnung beschäftigt, welcher „Erlös aus der rationellen Verwertung“ der Haare und des Zahngoldes der KZ-Toten „abzüglich der Verbrennungskosten“ zu ziehen sei. Der Historiker Christoph Ernst, der die gestern im Alten Rathaus eröffnete Ausstellung „Steglitz im Dritten Reich“ konzipierte, nennt das von seiner Zunft weithin vergessene Amt – damalige Adresse: Unter den Eichen 126-135 – deshalb den „Ort der Schreibtischtäter par excellence“.

Das Beispiel zeigt, daß Steglitz, der frühere Wohnort preußischer Beamter und Militärs, in der Zeit des Nationalsozialismus nicht irgendein Bezirk war. „Sein deutschnationales Klima“, so Kunstamtsleiterin Sabine Weißler, „war eine günstige Ausgangslage für viele Aktivitäten der Nationalsozialisten“ – im Juli 1932 hatte der hiesige Stimmenanteil für die NSDAP mit 42,1 Prozent weit höher als der Berliner Durchschnitt gelegen. Vor fast drei Jahren gründeten engagierte Laien und FachhistorikerInnen deshalb einen bezirklichen Arbeitskreis zur Erforschung der NS-Zeit, dessen Rechercheergebnisse – die Ausstellung, eine Begleitbroschüre und ein über dreihundertseitiger Sammelband zum selben Thema – nun präsentiert werden. Diese erstmalige Aufarbeitung der Nazizeit in Steglitz sei jedoch nur der Anfang einer kontinuierlichen Arbeit, versprach die Chefin des Kunstamtes, deren Behörde die 70.000 Mark Projektkosten selbst erwirtschaften mußte. Gerade in einer Zeit des aufkeimenden Fremdenhasses und neuen Antisemitismus, ergänzte Volksbildungsstadtrat Thomas Härtel, müsse man aufzeigen, wie „unbedeutend erscheinende Ereignisse“ zum Vorreiter für nachfolgende Verbrechen wurden. Das sei vielleicht auch einer der Gründe gewesen, warum in den Verwaltungsstellen, in denen die ForscherInnen mühsam Akten zusammensuchen mußten, so viel „Zurückhaltung“ geherrscht habe.

Die Ausstellung kann deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben – aber auch ohne das ist sie spannend genug. Neben der in Lichterfelde gegründeten „Leibstandarte Adolf Hitler“ oder dem Wirtschaftsverwaltungshauptamt als Teil der europaweiten Vernichtungsmaschinerie der Nazis wird dort auch Alltagsgeschichte aus dem Bezirk präsentiert. Beispiel: der „Millionenbau“ an der Albrechtstraße. Die Geschichte dieses wohl nach seinen teuren Mieten so benannten Gebäudekomplexes, die der dort wohnende Sozialarbeiter Frank Flechtmann zusammentrug, birgt so manche Überraschung. Die Schwägerin des Gestapo-Chefs Reinhard Heydrich lebte hier neben der jüdischen KPD-Frauenrechtlerin Recha Rothschild. Diese beherbergte ihrerseits Dora Diamant als Untermieterin, die erste Freundin Franz Kafkas. Einen „Mikrokosmos“ Nazideutschlands nennt Frank Flechtmann das Haus deshalb. Ute Scheub

Ausstellung „Zeitsplitter – Steglitz im Dritten Reich“ noch bis 13. Dezember im Alten Rathaus Steglitz, Schloßstraße 37. Vorträge, Filme und Stadtführungen im umfangreichen Rahmenprogramm.

„Steglitz im Dritten Reich“, Hg. vom Bezirksamt Steglitz, 336 Seiten, in der Ausstellung 19,80 DM, im Buchhandel 29,80 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen