Pomp and Circumstances

„Metropole London“ in der Villa Hügel  ■ Von Christoph Danelzik

Bald wird die Londoner Börse aus nicht viel mehr bestehen als einem Großrechner, der den Aktienhandel online ermöglicht. Und so verändert sich auch das Verhältnis der Finanzwelt zur Stadt, in der sie residiert. Imponierende Architekturleistungen sind veraltet, die repräsentative Bauaufgabe schrumpft zur Meterklauberei in Wolkenkratzerformat. Im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts dagegen avancierte ein Bankgebäude zum Symbol der englischen Weltmacht. Unter der Leitung des Architekten John Soane wurde die Bank of England über 30 Jahre, bis 1833, zu einem Architekturdenkmal ausgebaut, das antiker Tempel, kaiserliche Basilika und Forum Romanum zugleich war. Stolz zeichnete im Jahr 1830 ein Mitarbeiter Soanes, Joseph Gandy, den Komplex als römische Ruine. Aber nicht nur diese Architekturphantasie, auch die Modelle und Aufrißzeichnungen verraten ästhetischen Ehrgeiz. Anklänge an die „Revolutionsarchitektur“ sind deutlich, sowohl in der Formgebung als auch in der dramatisierenden Anlage der Zeichnungen. Joseph Gandy zeichnet die Schalterhalle des „Consols Transfer Office“ (1799) in der Art einer römischen Therme als massiven Zentralbau unter einer Kuppel, die auf einem Fensterband ansetzt. Gut beleuchtete Partien im Raum wechseln sich ab mit schattigen. Es entsteht eine Stimmung, die das auf der Zeichnung dargestellte profane Schaltergeschäft sakralisiert. Die Architektur der Bank of England sollte nicht nur ästhetisch anspruchsvoll, sondern auch nützlich und sicher sein.

Wie es sich für den Kruppschen Gründerzeitpalast geziemt, beginnt der Rundgang durch die Ausstellung in der Villa Hügel mit dem pompösen Krönungszug GeorgeIV. aus dem Jahre 1821. Erstaunlich viele für diesen Anlaß genähte Gewänder, Röcke und Kostüme blieben erhalten. Die Feierlichkeiten bildeten ein operettenhaftes Spektakel und enthüllen die anachronistische Lebensweise des Königs. Von einer Oberhaus-Sitzung im Jahr 1828 berichtet Fürst Pückler-Muskau: „In der Tat erinnerte die ganze Szene des Ein- und Ausgangs wie das Kostüm des Königs frappant an die Art, wie hier die historischen Theaterstücke aufgeführt zu werden pflegen, und es fehlte bloß der obligate flourish (Tusch der Trompeten), der das Kommen und Gehen eines Shakespearschen Königs stets begleitet, um die Täuschung vollkommen zu machen.“

Es ist die Frage, welcher Vergangenheitsbezug wirksamer war: der bürgerliche Rekurs auf die römische Antike oder der königliche auf eine verschwommene Mittelaltervorstellung (die noch das 16.Jahrhundert zur alten Zeit rechnet). London kannte bis auf den von Margaret Thatcher aufgelösten kurzlebigen Greater London Council nie eine Behörde, welche die Stadtentwicklung plante. Es wurde drauflos gebaut, hie Neugotik, da Klassizismus. Eine Ausnahme bildet das Westend, das während des Regency geplant wurde. In Text und Bild läßt sich verfolgen, wie gegen eine holpernde Kulturbürokratie die Entwürfe umgesetzt wurden. Trafalgar Square, Oxford Street und Piccadilly Circus entstanden und bilden bis heute das Herz der City. Dieses Stück Londoner Geschichte sollte in Berlin gründlich studiert werden.

Diesen einleitenden Sektionen schließen sich, in angrenzende Kabinette verteilt, wahre Kunst- und Wunderkammern an. Aquarelle und Meßgeräte konkurrieren miteinander, längst vergessene Erfindungen stehen neben zukunftsweisenden Objekten. Schnell stellt sich der Eindruck her, ein historischer Kramladen sei geplündert und in Essen neu arrangiert worden. Erst allmählich entpuppen sich die Fülle des Verschiedenen und der Mangel an Herausragendem als bezeichnend für die englische Kultur jener Jahre. Verglichen mit den pathetischen Leistungen der französischen Kultur vom Ancien Régime zu Napoleon gibt sich jene bescheidener. Das erste Stück aus Edward Elgars berühmtem Marsch-Zyklus „Pomp and Circumstances“ (Pomp und Prunk, 1901-1907) hätte sich in jener Zeit kaum zur heimlichen Nationalhymne gemausert. Neben repräsentativen Objekten können sich diskrete Zeugnisse gut behaupten: Einblicke in Versicherungspolicen und das königliche Rechnungsbuch beispielsweise. William Dorrington wettete am 21. Mai 1813 um zwölf Guineen, daß Napoleon „am oder noch vor dem 21. Junitag 1813 sein Leben aushauchen oder gefangengenommen“ werde. Zwar verstießen derartige Wetten gegen den Ehrenkodex, dennoch ließ sich Lloyd's Dorringtons Einsatz nicht entgehen. Gut dokumentiert ist auch die Banknotenstory. Fälschungssicherheit war auch vor der Farbkopierer-Ära problematisch. Zu sehen sind unter anderem ein Musterbuch beinahe perfekter Entwürfe und eine satirische Banknote von George Cruikshank, deren Veröffentlichung zur Abschaffung der Todesstrafe für FälscherInnen führte (1819).

Aquarelle gehörten zu den begehrtesten Sammelobjekten des Londoner Kunstmarktes. Deshalb wird ihnen ebensoviel Platz eingeräumt wie den Gemälden. Der Katalog zeigt, wie die Ansprüche des Markts die Produktion beeinflußten. Vater und Sohn Cotman teilten sich die Arbeit an einem Seestück, in das verkaufsfördernd ein zwei Jahrzehnte früher vorgefallener Schiffbruch szenisch eingebaut wurde. Das mit dem Bild zum zweiten Mal verkaufte Strandgut waren nunmehr die Reste der Walpoleschen Kunstsammlung, die von Katharina von Rußland erworben worden war. Der Verkauf war dementsprechend ein gesellschaftliches Ereignis in London.

Der schönste Ausstellungsraum ist der Malerei gewidmet. Ein bißchen lieblos werden in ihm die ikonographischen Standardthemen abgehaspelt; wer Tiere und frische Luft liebt, wird sich an diesen Bildern erfreuen. Hundeliebe und Geschmack an aristokratischen Lebensformen bediente Edwin Landseer, dessen Gemälde von der „Chevy-Chase-Jagd“ zugleich jener Mittelalterbegeisterung Rechnung trug, die auch Walter Scotts Roman schätzte.

Leider befaßt sich die Ausstellung fast ausschließlich mit der Kulturgüterproduktion. Die Metropole lebte jedoch auch vom Import. Mit der Ausgrenzung dieses Aspekts bleibt das präsentierte London-Bild unvollständig. Die reichen Bestände Londoner Museen an kontinentaler Kunst zeigen, daß sich der damalige Geschmack nicht auf englische Themen festlegte.

Abgewandelt gilt der Einwand auch für andere Abteilungen. Es wird nicht deutlich, daß und wie sehr London abhing von der übrigen Welt. Europa, die Kolonien und die USA kommen nicht vor. Ein Katalogaufsatz „London und die Welt“ befaßt sich mit Handelsgesellschaften und lateinamerikanischen Anleihen.

Wegen dieser Gewichtung besitzt die Ausstellung ihre Vorzüge besonders dort, wo die englische Kultur stark war. Dazu zählt das Kunstgewerbe.

Gezeigt werden unter anderem Silberarbeiten nach Entwürfen John Flaxmans. Umfangreich vertreten sind auch Uhren und andere Meßinstrumente. Sie lassen an die Welt denken, die in Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“ beschrieben wurde. Ein chirurgisches Amputationskit hingegen erinnert an die Schattenseiten des Lebens in London.

Diese kommen zwangsläufig zu kurz. Öffentliches Leben und soziale Wirklichkeit werden immerhin angerissen: Theaterzettel, einige Karikaturen; das Bild einer gelähmten Frau im Rollstuhl, vom Franzosen Géricault lithografiert. Am Ende sitzt er leibhaftig da, der echte Londoner von 1830. Jeremy Bentham vermachte nach einem dem Gemeinwohl gewidmeten Leben seinen Körper der Anatomie. Freunde modellierten um das Skelett einen wächsernen Körper, den sie bekleideten und in ein tragbares Kabinett setzten. Er gab ein leider nicht wiederholtes Beispiel. Bentham selbst schlug vor, präparierte Leichname als Statuen in Kirchen und auf dem Theater einzusetzen. So steht am Ende einer Ausstellung, die im antiken Rom ansetzt, der Vorläufer der wissenschaftlichen Weltanschauung, die im Jahr 1992 schon fast Vergangenheit ist.

„Metropole London. Macht und Glanz einer Weltstadt.“ Essen: Villa Hügel. Bis 8.November. Katalog: 50DM.