Entfaltung auf 17 Quadratmetern

■ Den Leuten das Fell über die Ohren zu ziehen, versuchen in Rußland zur Zeit viele/ Sie aber von Kopf bis Fuß ankleiden, und das für 300 Rubel pro Person — das kann nur Mamonow

Die Wohnung ist von neun in der Früh bis abends um acht geöffnet. Von 14 bis 15 Uhr dauert die Mittagspause, sonntags ist geschlossen. Hausherr ist der Pensionär Valentin Mamonow. Gleichzeitig ist er Geschäftsinhaber, Lagerverwalter und Abteilungsleiter in einer Person. Sein Handelsunternehmen in der russischen Stadt Sotschi eröffnete er im Erdgeschoß eines serienmäßigen Fünfetagenhauses aus der Chruschtschow-Zeit. In der Küche befindet sich die Verwaltung, im Schlafzimmer die Abteilung für Oberbekleidung, auf dem Balkon die Schuhabteilung. Ist das ein Geschäft in einer Wohnung oder eine Wohnung in einem Geschäft?

Wenn das Ganze schon zu Anfang der Perestroika passiert wäre, hätte man die bekannte Losung „Jeder Familie eine eigene Wohnung!“ umgewandelt in: „Jeder Familie ihr eigenes Geschäft bis zum Jahre 2000!“. Da könnte mich meine Frau dann eines schönen Tages fragen: „Wohin willst du denn noch?“ Und ich könnte antworten: „Wohin wohl, in den Laden um die Ecke.“ Und in Wirklichkeit ginge ich zu meinem Kumpel, um bei ihm irgend etwas zu kaufen. Er hätte zu Hause einen Laden. Ich hätte zu Hause einen Laden. Bei ihm wären es Lebensmittel. Bei mir Modeschmuck. Mit drei Zimmern könnte man schon einen Supermarkt eröffnen.

Der Sotschier Bürger Valentin Mamonow treibt schon seit vier Monaten bei sich zu Hause Handel. Seine Wohnung bedient arme Kunden. Er nimmt getragene Sachen in Zahlung und verkauft Kleidung, Schuhe und Geschirr an kinderreiche Familien und alte Leute. Für 300 Rubel kann man sich bei Mamonow von Kopf bis Fuß einkleiden. Und für 600 Rubel einen Pelzmantel kaufen — so gut wie neu.

„In den ersten vier Monaten hat der Warenumsatz meiner Wohnung 3.000 Rubel betragen“, erzählt Valentin Mamonow. „Auf den ersten Blick sind das nur armselige Groschen. Wenn man aber diese Summe zu der Menge an verkauften Waren in Beziehung setzt, dann ist es kein bescheidenes Resultat. Fast alle Preise liegen bei mir unter 100 Rubel. Und ich halte meine Preise.“ — Haben Sie auch Probleme? „Jetzt fehlt es mir vor allem an Geschäftsraum. Auf 17 Quadratmetern kann man sich nicht allzu großartig entfalten. Wenn sie mir ein kleines Kellergewölbe gäben — wie viele Arme könnte ich da noch kleiden und mit Schuhen versorgen...“

Das kleine Kellergewölbe bekommt er nicht. Das bekommen Reiche, weil die ja bekanntlich weinen (Anspielung auf die in der GUS überaus erfolgreiche Fernsehserie „Auch die Reichen weinen“, d. Ü.). Mamonow aber jammert nicht und drängt sich nicht auf. Und während der Staat die Leute bis aufs Hemd auszieht, kleidet dieser Sotschier Rentner auf 17,5 Quadratmetern die Armen. Und was im Fernsehen nicht richtig wiedergegeben wurde: Mamonow bezeichnet sein Geschäft nicht als „Secondhand-Laden“, sondern auf gut russisch steht da: „Getragene Kleider für die Armen“. Aber vielleicht ist das ja auch einerlei. G. Botschkarew

aus: „Komsomolskaja Prawda“, 2.7. 92.

Übersetzung: Barbara Kerneck