■ Kommentar
: Die beste aller Welten? Von Joaquín Estefanía

Dieses Jahr ist der Tod von Che Guevara just 25 Jahre vorbei, jenes Revolutionärs, der von einer Generation angebetet wurde. Nur wenige seiner Ideen sind heute noch gültig, und der Ruf vieler Jugendlicher in Europa ist heute fremdenfeindlich und aufs Eigeninteresse aus: „Frankreich den Franzosen“, „Deutschland den Deutschen“. Man muß analysieren, ob es in Hinblick auf den Fortschritt der Geschichte einen Rückschlag gibt. In seinem letzten Buch „Die demokratische Renaissance“ proklamiert Jean-Francois Revel den Sieg und versichert: „Es steht außer Zweifel, daß die Demokratie im Jahrzehnt von 1980 bis 1990 an Terrain gewonnen hat, sowohl im Denken, als Idee, als auch in der Realität, als Form politischer Herrschaft.“ Und er vermutet, daß das Jahrzehnt von 1990 bis zum Jahr 2.000 das der Weltdemokratie sein wird.

Die neuesten Phänomene und ihre ideologische Basis jedoch zeigen die Existenz von gefährlichen Strömungen im geschichtlichen Prozeß. Nach dem französischen Referendum und den ökonomischen Turbulenzen in Großbritannien und Italien sind Stimmen laut geworden, die eine Veränderung des Maastrichter Vertrages fordern, eines Instruments, das erworben wurde, um in dieser Utopie fortzufahren, die die europäische Einheit noch immer ist.

Diese eurozentristische Diskussion über die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft hat jedoch den Vorteil gehabt, andere Widersprüche ans Tageslicht zu bringen. Zum Beispiel den der osteuropäischen Länder. Nach dem Fall der Berliner Mauer ist ein neuer Damm errichtet worden: der des Schweigens. Kaum jemand weiß, was hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang geschieht, wie der Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus im Alltag vor sich geht, und kennt die Schwierigkeiten dieser Länder, inmitten des technischen Bankrotts in Demokratien überzugehen. Vielmehr erscheint Osteuropa nur dann besorgniserregend, wenn es in Form von massiven Immigrationsströmen in Westeuropa eindringt, wie es kürzlich in Deutschland geschah. Und dann kommt die Ausländerfeindlichkeit hoch: „Deutschland den Deutschen“, schrie man in Rostock, und sofort waren die Generalstäbe der politischen Parteien feige bereit, eine restriktive Reform des Asylrechts zu prüfen. Zuvor hatte Italien Tausende von Albanern abgewiesen, die sich auf Schiffen drängten, um ins kapitalistische Paradies zu kommen. Und dabei dürfen wir Spanier die Bötchen voller Marokkaner nicht vergessen, die den Hunger und die Unterdrückung durch die Fahrt über die Meerenge von Gibraltar vergessen wollen und Tod und Rückführung vorfinden. Auf dem Balkan liegen – schon wieder! – tote Zigeuner in Massengräbern. Und im Frankreich von Le Pen sind Friedhöfe angegriffen und Gräber von Juden geschändet worden.

Das Antlitz des Rassismus hat heute mit der Immigration zu tun, nicht mit „höherwertigen Rassen“. Es ist die Spannung zwischen den Arbeitern der Ersten Welt, die ihre Arbeit und ihren Wohlfahrtsstaat in Gefahr sehen, und den Armen der Dritten Welt und Osteuropas, die am relativen Wohlstand teilhaben wollen. Es sind die gleichen Arbeiter, die im französischen Referendum mit Nein gestimmt haben, da es ihnen unbehaglich ist, mit dem Ausländer neben ihnen die Subventionen teilen zu müssen. So entsteht eine Art „demokratischer Rassismus“, in dem – außer in Extremfällen wie Rostock – Einheimische und Ausländer in ständiger Spannung zusammenleben, während sich eine duale Gesellschaft verbreitert: Der „andere“ ist ein möglicher Feind, der in jedem Moment seine Feindseligkeit zeigen kann. Und angesichts dieser Unsicherheit gewinnen die Demagogen und der Autoritarismus an Terrain. Dieser Kontext von Einzelinteressen basiert auf den reaktionärsten Theorien über die historische Entwicklung, die selbst in sozialdemokratischen Regierungen auf fruchtbaren Boden fallen. Der nordamerikanische Soziologe Albert Hirschman hat dies die „Rhetorik der Unnachgiebigkeit“ genannt hat. Es geht dabei um eine einfache Ideologie: Die, daß wir in der besten aller möglichen Welten leben und daß das Angemessene die Verteidigung des Status quo ist. Die Ausbreitung dieser Ideologie in Form der extremen Rechten und Europas Rückschritte bei der Suche nach einer gemeinsamen und partizipativen Herrschaft geben zu der Befürchtung Anlaß, daß wir uns auch irrten, als wir glaubten, direkt unter dem Pflaster läge der Strand. Es muß noch viel mehr Erde aus der Gruft geschaufelt werden, damit, wie 1968, die Freiheit der Zukunft die Freiheit des Unterschieds ist, und nicht eine Demokratie, die durch den Wahn von der Identität beseelt ist – ob diese nun eine Partei, eine Ethnie, eine Nation, eine Rasse oder irgendeine andere den Rest ausschließende Identität ist. Darum geht es.

Joaquín Estefanía ist Chefredakteur der spanischen Tageszeitung „El País“, in der dieser hier gekürzte Beitrag am 27.9.92 erschien.