■ Dokumentation des „Hamburger Manifests“ gegen eine Änderung des Artikels 16 im Grundgesetz
: „Unsere nationale Glaubwürdigkeit zu diesem Grundrecht wird erprobt“

Asyl ist ein Notrecht seit Menschengedenken.

Tausende und Abertausende deutscher Bürger wären den Schergen der Nazis ohne Asyl im Ausland nicht entkommen. Die verfassungsmäßige Individualgarantie des Grundgesetzes basiert auf dieser historischen Erfahrung deutscher Exilanten und Asylsuchender während des Naziregimes; die Verfasser haben sich zu unserer historischen Verantwortung in Form dieses Grundrechts für jeden politisch verfolgten Weltbürger bekannt.

Wir in der Bundesrepublik waren stolz darauf, daß die Verfassung historische Schuld in positive Zukunft transportierte, ein Versprechen an die Weltgemeinschaft: jedem politisch Verfolgten Asyl zu gewähren – ein Recht, das Deutschen wie Willy Brandt, Albert Einstein oder Thomas Mann und erst recht unzähligen Namenlosen das Überleben vor den Nazis im Ausland ermöglicht hat.

Zum erstenmal in der kurzen Geschichte unserer Verfassung wird jetzt unsere nationale Glaubwürdigkeit zu diesem Grundrecht erprobt, weil wirtschaftliches Elend in der Welt Bürger voller Ängste und Hoffnungen in unser Land treibt, auch ohne politisch verfolgt zu sein.

Die Verfassungsnorm deswegen ohne Not und als Reaktion auf die Rechtsradikalen zu kassieren, symbolisiert einen eklatanten Mangel an Geschichtsbewußtsein, Wertorientierung und auch an Politikbeherrschung.

Wenn es etwas wie ein Aura der Verfassung gibt, dann ist es für die deutsche Nachkriegsgeneration das Asylrecht des Artikels16 Grundgesetz, das einzige Grundrecht, das sich nach den weltweiten Verheerungen der Nazis an alle politisch verfolgten Weltbürger wendet.

(Hier gilt übrigens auch kein Europahinweis: die Nazis haben von Deutschland aus in Europa gewütet, die Verantwortung ist daher nicht übertragbar.)

Die sich abzeichnende Völkerwanderung aus Wirtschaftsnot muß mit wirklicher Staatskunst, gezielter Hilfe im Ausland, Zuwanderungsregelungen und angewandter Verwaltungspolitik kanalisiert werden.

Ein panikartiger Zugriff auf Grundrechte löst kein Problem, sondern gerät nur zu leicht zum ersten Schritt einer fortgreifenden Aushöhlung unserer Verfassung und – nicht weniger gefährlich – legitimiert wie ein Irrwitz den Schlachtruf der neuen Rechtsbewegung „Deutschland den Deutschen“ konstitutionell, statt sie politisch zu bekämpfen.

Hamburg, den 7.Oktober 1992

Stephan Barberino, Intendant; Jurek Becker, Schriftsteller; Michael Bergmann, Autor; Manfred Bissinger, Journalist; Hark Bohm, Filmregisseur; Christel Buschmann, Regisseurin; Ascan Crone, Galerist; Hanne Darboven, Künstlerin; Doris Dörrie, Filmregisseurin; Helmut Dietl, Filmregisseur; Michael Eckelt, Filmproduzent; Jürgen Flimm, Intendant; Hansjoachim Friedrichs, Journalist; Pia Frankenberg, Filmregisseurin; Bodo Fründt, Journalist; Ralph Giordano, Schriftsteller; Dominik Graf, Filmregisseur; Günter Grass, Schriftsteller; Otto Grokenberger, Produzent; Nikolaus Hansen, Verleger; Reinhard Hauff, Regisseur; Elke Heidenreich, Autorin; Rolf Hochhuth, Schriftsteller; Hermine Huntgeburth, Filmemacherin; Urs Jenny, Autor; Walter Jens, Schriftsteller; Michael Jürgs, Journalist; Silvia Koller, Fernsehredakteurin; Stefan Kurt, Schauspieler; Michael Krüger, Verleger; Thomas Langhoff, Intendant; Siegfried Lenz, Schriftsteller; Monika Maron, Schriftstellerin; Inge Meysel, Schauspielerin; Anna Mikula, Journalistin; Ivan Nagel, Autor; Michael Naumann, Verleger; Marcel Odenbach, Video-Künstler; Ralf Rainer Odenwald, Maler; Klaus Pohl, Dramatiker; Carola Regnier, Schauspielerin; Roland Renner, Schauspieler; Harry Rowohlt, Übersetzer; Eliane Schär, Journalistin; Volker Schlöndorff, Filmregisseur; Stephan Schmidt- Wulffen, Ausstellungsmacher; Uwe M. Schneede, Museumsleiter; Bernd Schroeder, Autor; Rolf Schübel, Regisseur; Jan Schütte, Regisseur; Friedrich-Wilhelm Frhr. von Sell, Intendant a.D.; Asma Semler, Journalistin; Benita Steinhardt, Autorin; Carola Stern, Publizistin; Laurens Straub, Filmproduzent; Thomas Strittmatter, Schriftsteller; Thomas Struck, Filmemacher; Patrick Süskind, Autor; Katharina Thalbach, Schauspielerin; Gordian Troeller, Filmemacher; Thomas Überhoff, Lektor; Klaus Wagenbach, Verleger; Sanda Weigl, Sängerin; Peter Zadek, Regisseur; Arie Zinger, Regisseur; Armin Zweite, Museumsleiter