Noch ist Polen nicht gerettet

Das katholische Hospiz schmuggelt Fernseher und Videogeräte, Skinheads prügeln auf Anarchisten ein, und bei den Studenten ist Buddhismus „in“. Die polnische Gesellschaft im Übergang. Oder Untergang. Eindrücke aus Gdansk  ■ Von Christian Eger

Der Zug Berlin–Gdynia ist leer. Erst nach dem nächtlichen Passieren der Grenzkontrollen beginnen sich die Waggons zu füllen. Ein Pärchen wählt die freien Plätze in meinem Abteil. Sie wirken gestreßt und sind wenig gesprächig. Wie auf Verabredung greifen wir nach den Zigaretten. Sie nach „Klubowe“, ich nach „Camel“. Weil ich mein Feuerzeug nicht finden kann, bieten sie mir ihres an. Polnischer Alltag. Ex oriente lux, ex occidente Luxus.

Fünf Uhr morgens treffe ich ein im Hauptbahnhof Gdansk. Es regnet in Strömen. In der Empfangshalle sammeln sich Reisende und Frühaufsteher wie Strandgut. Statische Stille. Nur vor den jaulenden Videospielautomaten wächst eine aufgeregte Menschentraube. Für 1.500 Zloty darf hier geschossen und überfahren werden, bis der Spaß aufhört und der Tag beginnt.

Ich spaziere in den Morgenregen. Die wohlvertraute Kulissensiedlung. Von den Wänden wehen Plakatreste der letzten Wahlen. Die „Federacja Anarchistyczna“ kündigt eine Demonstration an für den kommenden Sonntag. Noch um acht Uhr morgens sind die Geschäfte geschlossen. Die Wechselstuben mit der Aufschrift „Kantor“ öffnen am späten Vormittag. Das Geschäft ist gesichert. Nachdem der Zloty konvertierbar wurde, schießen sie wie Pilze aus dem neu verteilten Boden. Der Schwarztausch ist zu Ende, der Dollar floriert.

In der ersten Morgensonne fahre ich weiter nach Wrzeszcz, dem früheren Langfuhr und eigentlichen Zentrum der Dreistadt Gdansk. Hier arbeiten Universität und Polytechnikum, Brauerei und Opernhaus. Oskar Matzerath beschloß hier blechtrommelnd seinen Wachstumsstopp und brachte den Stadtteil in die Weltliteratur und seinen Verfasser ins Gerede. Endlich eingetroffen, begrüßt mich mein Freund, der Schriftsteller Boleslaw Fac. Es ist Frühstückszeit, wir gehen einkaufen.

Die Straßen sind gefüllt von improvisierten Ständen. Obst, Fleisch und Gemüse gibt es im Überfluß. Der private Sektor „boomt“. Ein Großteil der Arbeitslosen nimmt sein Schicksal in die eigene Hand und macht die Arbeitsämter fast überflüssig. Das graue Bruttosozialprodukt liegt bei über 50 Milliarden Dollar, mehr als ein Viertel aller Produktions- und Dienstleistungen.

Einmal im Monat findet in Wrzeszcz ein multinationaler Markt statt. Wer mit seinem Lohn nicht über den Monat kommt, zieht hierher und handelt mit allen Dingen, die das Leben zusammenhalten, vom Fernseher bis zum Samowar. Auch die Ossis der Polen, Weißrussen und Ukrainer, lassen sich diese Chance nicht entgehen. Regelmäßig treffen sie ein und nächtigen in den leerstehenden Häusern der desolaten Stadt.

An der Grundwaldzka-Allee, die Gdansk mit Wrzeszcz verbindet, empfängt ein zur Markthalle umgerüsteter Busbahnhof. „Centrum Handlowe SUKCES“ künden die Werbeschilder, voran die Aufschrift „Manhattan“, Volksmund-Synonym für die erfolgreiche Verkaufssiedlung. Die Kommune Gdansk stellte die Gewerbefläche zur freien Verfügung. Wer investieren wollte, konnte es unbehindert tun. Es entstand ein moderner Basar, der auf kein Attribut westlicher Warenwelt verzichtet: Vom Playboy bis zum Playmobil ist alles erhältlich. „Dozwolne o 18 let“ steht über der kleinen Tür eines Sex-Shops, an dem die katholische Zielgruppe zwar langsam, aber doch vorüberzieht.

Mit der neuen Freiheit begann die Krise der katholischen Kirche. Den überall spürbaren Verlust an Attraktivität beantwortete sie mit Aktivität. Wurde früher der Politik nur Raum geboten, wird heute Politik gemacht. Und es gibt einige, die aus der Tatsache, daß Polen ein katholisches Land ist, ableiten, daß es auch ein katholischer Staat werden müsse.

Unter dem Deckmantel von Auslandsspenden macht die Kirche Geschäfte. Nach den polnischen Kirchengesetzen vom Mai 1989 sind ausländische Spenden für wohltätige Zwecke von Zoll- und Umsatzsteuer befreit. Die Kirche nutzt die Chance. Das Pallotinerhospiz in Gdansk, das Krebskranke im Endstadium betreut, wollte die Kosten für die Errichtung eines modernen Pflegezentrums – 70 Milliarden Zloty – mit Importgeschäften verdienen. Pater Eugeniusz Dutkiewicz, der Gründer des Spitals, ließ zunächst eine Lieferung mit 700 Fernsehgeräten anrollen, dann folgten weitere 1.000, schließlich 300 Videogeräte. Erst als der Tanker „Bridgeman“ mit 5.800 Tonnen Benzin im Hafen Anker warf, schöpften die Zöllner Verdacht und alarmierten die Behörden. Das Hospiz hatte auf diese Weise 15 Milliarden Zloty einnehmen können. Dem Fiskus aber war das Dreifache der Summe entgangen.

Die katholische Kirche kann schon bald zur größten Wirtschaftsmacht in Polen avancieren. Vor dem Zweiten Weltkrieg war sie mit 170.000 Hektar bereits der größte Grundbesitzer. Das Parlament hat jetzt ein Gesetz verabschiedet, mit dem die Kirche ihren von den Kommunisten enteigneten Grundbesitz zurückfordern kann. In Gdansk engagiert sie sich sogar für den Erwerb einer Immobilie, die bereits in preußischer Zeit säkularisiert wurde. Es wird allein dem Engagement weniger Bürger zu danken sein, sollte der im Rokokostil errichtete Abt-Palast von Oliva nicht aus dem kommunalen in kirchlichen Besitz wechseln.

Am Nachmittag führt mich mein Gastgeber zu einer Vorstandssitzung der „Towarzystwo Polska-Niemcy“, der Deutsch-Polnischen Gesellschaft in Gdansk. Bei grützigem Kaffee diskutiert eine Herrenrunde die Errichtung einer Begegnungsstätte in Gdansk-Wrzeszcz, die ausschließlich aus polnischen Mitteln finanziert werden soll. „Die Polen müssen lernen, auf den Deutschen als einen Europäer zu schauen“, erklärt mir Professor Jerzy Wieloch, ein Vorstandsmitglied der Vereinigung. „Weshalb können deutsche und polnische Partner nicht zusammenarbeiten? In der Wirtschaft geht es schon, in der Politik aber noch nicht. Die Polen und die Deutschen müssen in die Geschichte Korrekturen einbringen, denn sie ist gefälscht worden – von beiden Seiten.“

Tatsächlich schätzen westliche Investoren Prag und Budapest mehr als Warschau oder Gdansk. Ein Argument ist die unstabile politische Lage des Landes, die bereits Züge einer permanenten Staatskrise trägt.

In der Warynskiego-Straße in Wrzeszcz arbeitet seit März 1990 der „Bund der Bevölkerung deutscher Abstammung“. Das Namensschild mit schwarzrotgoldenem Grund wurde ausgebrannt. Die öffentliche Situation ist noch immer sensibel. Bei vielen Polen geht die Angst um, daß die Deutschen das Land stückweise aufkaufen würden. Zur Zeit noch eine Illusion.

Im Gesellschaftsraum des Vereins treffe ich auf dreißig Personen, deren Durchschnittsalter bei etwa siebzig Jahren liegt. Vor bundesdeutscher Trikolore sitzen die Alten bei löslichem Kaffee und plaudern. Volksliedtöne klingen aus einem Kassettendeck, und die Runde singt schunkelnd vom „Machandel-Schnaps“ und „Ja, ja, die Danziger Frauen sind wunderbar“. Die Atmosphäre ist so herzlich wie paradox. Hier sitzen Menschen, die den Krieg und den Staatssozialismus als Deutsche überstanden haben und denen heute nichts ferner liegt, als ihre Heimat zu verlassen. Ein Bund alter Menschen, meist ohne Angehörige, die sich gegenseitig unterhalten und stützen: vom Tageseinkauf bis zum Wannenbad. Eine Überlebensgemeinschaft. Sie als politische Spitze eines neuen Revanchismus zu betrachten scheint absurd, ist aber Praxis.

Die Gefahr einer Instrumentalisierung besteht von vielen Seiten. „Keine Politik“ bittet die Rentnerin Janina Karnas, bevor ich ein Gespräch mit ihr führen kann. Vergangenheit ist, was nur langsam vergeht.

Um neue Mitglieder und für eine großpolnische Zukunft wirbt unweit der Warynskiego die nationalistische NFP, die Volksfront Polen, mit der Plakataufschrift: „Wollt Ihr ein starkes und großes Polen?“ Ein männlicher Uniformträger – Brustriemen, Schlips und Ledergürtel – blickt lachend vom Plakat in Richtung Osten.

Die Nacht zum Sonntag verbringe ich mit Freunden in einem Szene-Klub nördlich der Gdansker Speicherinsel. Ein Vortrag wird gehalten: „Das Nichts und seine Konsequenzen“. Es wird gelacht und gestritten. Der polnische Student denkt „Meta“. Transzendentalphilosophie und Buddhismus bestimmen seine Geisteswelt. Überall kauft man Zen-Lektüre und Meditationskissen.

Am nachfolgenden Morgen füllt Publikum den Langen Markt in der Gdansker Altstadt. Schwarze Fahnen, weiße Transparente. Die „Federacja Anarchistyczna“ und der Solidarność-Aktivist und Walesa-Gegner Gwiazda rufen das Volk. „Nationalismus ist Sozialismus für Dumme!“, rufen die koalitionsfähigen Anarchisten, bevor eine mit Holzknüppeln ausgerüstete Gruppe von Skinheads den Markt stürmt und wahllos auf die Versammelten einschlägt. In Sekundenschnelle herrscht Chaos, in wenigen Minuten wieder völlige Normalität. Mit dem Erscheinen der Miliz verschwinden die Schläger. Festgenommen werden einige Anarchisten. Die Muster sind bekannt.

Ein für die postkommunistischen Staaten typisches Gewirr von behördlicher Naivität, überkommenen Gesetzen und hilfloser Bürokratie bestimmt die polnische Situation. Hinzu tritt eine begründbare Staatsverdrossenheit und die Erfahrung vieler, daß Freiheit schwieriger zu ertragen ist als Gleichheit.

Kontinuität beweist allein das Prestige des polnischen Präsidenten Walesa. Es sinkt beständig. Seine Auftritte im Fernsehen wirken improvisiert und affektiv: absurde Zappelbilder aus dem Polittheater. In einem seiner zahlreichen Interviews äußert er: Polen war zwar ein kommunistisches Land, aber eigentlich sah es aus wie ein Radieschen: außen rot und innen ganz weiß. Hier irrt der Präsident. Das Fruchtfleisch ist schwarz.

Auf der Heimreise trommle ich: Noch ist Polen nicht gerettet. Im Rücken ein furchtbar schönes Gelände, das nicht mehr wirklich zu verlassen ist. Zeit ohne Grenzen. Frei nach Jerzy Lec: „Die Uhr schlägt. Alle.“