Mit nackten Stimmen

■ Honeggers „Jeanne d'Arc au Bûcher“ an der Opéra-Bastille

Es ist der 30.Mai 1431. Um den alten Marktplatz von Rouen in der französischen Normandie versammeln sich Scharen von Schaulustigen. Laut und kontrovers geht es hier zu. Die Menge wartet neugierig auf das Spektakel: eine Hexe, eine Ketzerin, eine Abtrünnige soll bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Der Scheiterhaufen ist schon aufgerichtet: Dort oben steht, gefesselt und von der Folter gezeichnet, ein junges Mädchen: Jeanne d'Arc. Sie ist gerade neunzehn Jahre alt, aber schon zu dieser Zeit eine Legende.

Die Geschichte der Jungfrau von Orléans ist seitdem immer wieder neu dargestellt, erzählt, besungen worden. Ein Schlüsselwerk besonderer Art ist „Jeanne d'Arc au Bûcher“ (Jeanne d'Arc auf dem Scheiterhaufen) nach der Textvorlage von Paul Claudel und von Arthur Honegger vertont. Mit diesem sperrigen Bühnenspiel hat gerade die Pariser Opéra Bastille ihre neue Spielzeit eröffnet. Was ist so irritierend an diesem Werk? Sicher, seine besondere Mischform aus Oper, Oratorium, Sprech- und Musiktheater.

Die Idee zur Bearbeitung dieses mittelalterlichen Stoffes stammte von der Auftraggeberin Ida Rubinstein. Als Tänzerin und Schauspielerin begann sie ihre Karriere mit Serge Diaghilew und seinen „Ballets russes“, bevor sie einen eigenen Weg einschlug. In Anlehnung an die antike Tragödie und die Mysterienspiele suchte sie Schauspiel, Pantomime, Sprech- und Musiktheater „unter einen Hut“ zu bringen. Reich genug war sie, um bei den bekanntesten Künstlern ihrer Zeit Werke in Auftrag zu geben. Erfolgreich dazu. Heraus kam eine Liste illustrer Namen: Debussy, Glasunow, Vincent d'Indy, Strawinsky, Ravel, Milhaud. Und immer wieder Honegger.

Claudel lehnte zunächst den Auftrag ab. Aber dann riß das Thema den großen katholischen Dichter mit; er schrieb das Libretto in wenigen Wochen nieder. Im Gegensatz zu Friedrich Schillers „Johanna von Orléans“ (1802) oder George Bernard Shaws „Saint Joan“ (1923), die die Handlung chronologisch dargestellt haben, läßt Claudel die Geschichte rückwärts laufen, vom Tag der Hinrichtung aus. In quasi filmischen Sequenzen, teils realer, teils imaginärer Rückblicke erlebt Jeanne d'Arc einzelne Momente ihrer Passion noch einmal mit.

Die verschiedenen Schichten des Textes kamen Honeggers musikalischem Ziel entgegen: unmittelbarer Ausdruck. Sein persönlicher Grundsatz war, die Plastizität des Wortes hervorzuheben, „um ihm seine ganze Eigenkraft zu belassen“. Claudels sprachlich virtuosem Fresko von französischen Dialekten, Vulgär-Latein, Bibelzitaten und Volksdichtungen entsprechen in der Komposition gregorianische Antiphone, Volkslieder, barocke Tanztypen und Jazz- Rhythmen. Hierfür entwarf Honegger eine reiche Palette von Klangfarben: skandierte Worte, Choräle, Murmeln, Schreien, Psalmodieren, Wutausbrücke, himmlische Stimmen, dumpfe, drohende, kristallklare Klänge.

Wie wirkt ein solches Werk heute? Wie übersetzt ein Regisseur wie Claude Régy, der zeitgenössische Stücke von Peter Handke und Botho Strauss durchgesetzt hat, wie ein profilierter Musikdirektor wie Myung-Whun Chung diesen in seiner Entstehungszeit verhafteten Bühnenzwitter in die Gegenwart?

Régy bleibt sich treu und arbeitet mit sparsamen Bildern und Bewegungen. Als Blickfang steht Jeanne eingelassen in eine riesige, holzfarbene Säule, Altar, Marterpfahl, Scheiterhaufen zugleich. Zu ihren Füßen drängt sich die Menge, als Chor zu drei geschichteten Blöcken aufgebaut. Braungrau, düster bleibt die Bühne, aus der man den Modergeruch einer Gruft zu riechen glaubt. Nackt und erdbeschmiert kommen die Ankläger und Richter aus dem Dämmerlicht und bewegen sich wie Marionetten auf dem schmatzenden Schlammboden. Es sind keine Menschen, sondern Tiere, die Jeanne d'Arc verurteilen, in einem abgekarteten Spiel der politischen Mächte. Die Verhandlung ist eine groteske Posse: Vorsitz führt das Schwein, ihm zur Seite als Tribunal das Schaf und als Schreiber der Esel. Nichts von alledem, kein Wort, keine Passage, keine Szene wird ausgemalt. Die Darsteller bleiben nackt, nur mit ihren Stimmen geschmückt. Einzige Ausnahme: Im Kartenspiel, als Jeanne – zum Spieleinsatz degradiert – verloren hat und ihr Schicksal besiegelt ist, treten die Majestäten mit Krone und Zepter auf. Das wohl auch nur, um sie von den mitspielenden Buben, ebenfalls nackt, zu unterscheiden.

Die Aufführung gliedert sich in zwei Teile: einen statischen, dunklen, ganz von Worten und Wortspielen dominierenden ersten und einen singend hellen, lebendigen zweiten. Die spröde Bühnenregie hat auch ihre Schwächen: Bis zum Ende ist sie durchgehalten und erfährt die einzige Steigerung durch die Beleuchtung (Dominique Bruguiere). Wo aber die musikalische Textur dichter und virtuoser wird, bis zuletzt alle himmlischen Glocken und Posaunen zusammentönen, da hätte man sich doch ein bißchen Bewegung im Bild gewünscht.

Die Titelbesetzung mit Isabelle Huppert ist nicht ideal. Rauh, mit zu viel Pathos, erdrückt sie gleich zu Anfang die Unschuld der Verurteilten. Sie artikuliert zwar deutlich, aber übergeht die inhaltlichen Nuancen: die Verzweiflung über den nahen Tod, die Frage, warum das alles, den festen Glauben an ihre Berufung, schließlich die Verwunderung über die grausame Umwelt. Nur zum Schluß, als die Flammen schon hochzüngeln, zeigt sich großes Theatertalent: Eine einzige Handbewegung reicht aus, um den Verbrennungsschmerz mit ihr mitzufühlen, eine einzige Kopfbewegung läßt eine sterbliche Hülle auf dem Scheiterhaufen zurück und die Seele zum Himmel auffahren.

Anders Bruder Dominique (Redjep Mitrovitsa), ihr Dialogpartner, der herausragende Sprecher der Aufführung. Vor allem gegenüber seinen oft übertrieben, ja hysterisch deklamierenden Mitspielern, die so das ruhige Bewegungskonzept gestört haben.

Myung-Whun Chung hat Chor, Solisten und Orchester souverän durch die Partitur geführt. Fast möchte man anfügen: so wie man es inzwischen von ihm schon gewohnt ist. Er überträgt die musikalischen Schlüsselworte – ganz im Sinne von Honeggers Prosodik – mit Affekt: Er läßt wütende Chorausbrüche wie: „Hexe!Ketzerin! Hexe!Ketzerin!“ fast spuckend skandieren. Einige Motive sind besonders schön akzentuiert: das Heulen des Höllenhundes Yblis, Symbol für den Tod; die Glockenakkorde, wenn Jeannes Schutzpatroninnen Katharina und Margarethe erscheinen; vor allem die zahlreichen Kinderlieder, das „Carillon“ oder das „Trimazô“ (ein lothringisches Mai-Lied, Symbol für Jeannes Unschuld), haben in ihrer lyrischen Schlichtheit manchmal das schreckliche Ende dieser Geschichte vergessen lassen. Chung läßt sich mitreißen, verliert beim feurigen Aufstieg zur himmlischen und muskalischen Apotheose fast den Anschluß an den Chor. Und als Schlußcredo buchstabieren die Stimmen auf der Erde (wie die Partitur verlangt) leiser werdend und feierlich: „Niemand-hat-eine- größere-Liebe-gekannt-denn-die- sein-Leben-hinzugeben-für-die- Seinen.“ Barvo! Birgit Meilchen