■ Ziviler Ungehorsam 1983 und 1992
: Zu eifrig an der falschen Stelle!

Ziviler Ungehorsam ist für alle Beteiligten an Spielregeln gebunden. Auf der Seite der Gesetzesbrecher gilt es, die körperliche Unversehrtheit der „anderen Seite“ zu achten, materielle Schäden möglichst gering zu halten, gegen die Festnahme allenfalls passiven Widerstand zu leisten und das eventuelle Gerichtsurteil unter lauthalsem Protest zu akzeptieren. Auf der Seite der Staatsmacht hingegen kommt es darauf an, möglichst niemanden zu verhaften, eingeleitete Verfahren lautlos einzustellen bzw. schlimmstenfalls mit einer symbolischen Strafe enden zu lassen. Die Auslegung der Spielregeln obliegt keineswegs der Justiz, sondern der Öffentlichkeit. Im Zweifelsfall ist ein Gutachten bei Herrn Professor Jürgen Habermas einzuholen.

Allein so glatt lief und läuft die Sache „bei uns“ nicht. Nicht in der Bundesrepublik des Jahres 1983, und erst recht nicht im vereinten Deutschland des Jahres 1992. So zivil und gewaltlos sie sich auch aufführten, die Sitzblockierer gegen die Raketenstationierung wurden genauso verknackt wie diejenigen, die sich weigerten, den Volkszählungs-Fragebogen auszufüllen. Stets obsiegte der Strafanspruch des Staates. Jetzt haben die Rostocker Justizbehörden ausgerechnet bei einer Aktion, die, sofern überhaupt strafbar, wesentliche Merkmale des zivilen Ungehorsams erfüllte, die Faust der Strafverfolgung niedersausen lassen. Eine Gruppe französischer Juden, die gegen die drohende Abschiebung von Roma-Flüchtlingen protestierte, wird mit einer Vielzahl von Verfahren überzogen. Gegen drei der Übeltäter, die ihre festgenommenen Freunde unter Einsatz von Tränengas befreien wollten, ist Haftbefehl erlassen worden.

Nun könnte man argumentieren, daß in einer Situation, wo den Strafverfolgungsbehörden im östlichen Deutschland zu Recht Saumseligkeit und mangelnde Wahrnehmung des staatlichen Gewaltmonopols vorgeworfen wird, es die Aufnahmefähigkeit sowohl der Beamten als auch der Öffentlichkeit hoffnungslos überfordern würde, jetzt plötzlich für Zurückhaltung der Staatsmacht zu plädieren. In der Tat wäre es fatal, würde eine Einstellung der Verfahren lediglich damit begründet, daß es sich bei den Tätern um französische Juden handle. Die Freilassung der Inhaftierten wie die Niederschlagung der Verfahren rechtfertigt sich ausschließlich aus dem humanen Anliegen der „Täter“ und der Geringfügigkeit dessen, was sie „verbrochen“ haben. Es wird also keineswegs für zweierlei Recht plädiert. Wenn Nationalität und Religionszugehörigkeit der Protestierenden bei der Wertung ihrer Taten überhaupt eine Rolle spielen sollten, dann diese: Es ist für die Nachkommen der Menschen, die den Holocaust überlebten, fast unerträglich, wenn vier aus ihrer Mitte, die in ein Rathaus eindrangen, um gegen Unmenschlickeit zu protestieren, festgenommen werden. Das hätte die Polizei wissen müssen. Sie ist es, die durch ihren törichten Eifer die Befreiungsversuche verursacht hat. Mit ihren Haftbefehlen hat die zuständige Richterin dann dem Idiotismus die Krone aufgesetzt.

Man wende nicht ein, Serge und Beate Klarsfeld hätten die Aktion nur ausgeheckt, um einen Skandal zu provozieren. Na und? Selbst wenn die Klarsfelds und ihre Freunde schematische Urteile über Deutschland hegen sollten – ist es dann gerechtfertigt, sie in ihnen zu bestätigen? Christian Semler