Die Demut der Schwächsten

■ Johann Carl Wezels „Eigensinn und Ehrlichkeit“ in Kassel

Mein Gott, es könnte so schön sein. Da reichen sich zwei Liebende über die Grenzen ihres Standes hinweg die Hand, reißen sich und anderen die trübe Brille des Vorurteils von der Nase, wollen in ein Bett: Sie, die Gräfin von Wildruf, in mittleren Jahren, und er, Herrmann, Hauslehrer ihrer Tochter; das Fleisch will es so, das Blut ist in Wallung, auch materiell betrachtet, unter rein gütermäßigen Gesichtspunkten wäre es Herrmanns Schaden nicht, er wird von der Gräfin baronisiert (was freilich schon ein wenig seinen lakaienhaften Stolz verletzt), und überdies weiß er schlau: „Mesalliance ist zwischen Personen, nicht aber zwischen Herzen möglich.“

Aber ach, da gibt es nicht nur die bornierten Wächter des Herkommens – die Rücksicht, die Herrmann zu nehmen hätte, ist zarterer Natur: Ein schlichtes Mädchen, aus seiner bewegten Vorgeschichte, Emilie, der er einst die Ehe versprach, totgeglaubt (oder totgewünscht), sie steht plötzlich lebendig da, engagiert als Kammerzofe in just jenem Haushalt der Gräfin. Nun setzt eine raffinierte Operation, eine ökonomisch-moralische Gehirnwäsche ein, an deren Ende Emilie nicht aus noch ein weiß und brechenden Herzens – gegen Entschädigung, versteht sich – ihrem Herrmann entsagt: um seines Glückes willen. Happy-End.

Es hat seine Gründe, wenn des Johann Carl Wezels (1747–1819) Lustspiel „Eigensinn und Ehrlichkeit“ bislang keine Aufführung erlebt hat: Der pessimistische Aufklärer erzählt nicht die schöne Mär von der Überwindung des Vorurteils und dem Sieg der Vernunft, er versöhnt das Bürgertum nicht wohlwollend mit sich selbst: Dessen ureigene Waffe, die Rationalität, erzeugt ihrerseits Unrecht; nicht die blasierten Reaktionäre, die Generäle und Grafen, werden gedemütigt, sondern die Schwachen, die Schwächsten. Eine Privilegierte kauft einer sozial Schwächeren einen Mann ab: Wie normal, wie wenig empörend das ist! Wezels Humor ist bitter, wie der Horváthsche; wohlverstanden, hinterläßt er einen Nachgeschmack, einen Verdauungsrückstand, den namentlich das aufgeklärte Bürgertum übel vermerkt. Daher der Mißerfolg.

Johann Carl Wezel ist eine der störrischsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte. Als Sohn eines Lakaien im thüringischen Sondershausen geboren, lebte er später unter anderem in Leipzig und Wien, hofmeisternd und schreibend, kehrte nach anhaltendem Mißerfolg in seine Heimatstadt zurück, wo er noch 30 Jahre verbrachte und offenbar dem Wahnsinn verfiel (oder dem, was seine Zeitgenossen dafür hielten). Den Literaturgeschichten ist er eine knappe Fußnote wert, bis Arno Schmidt seinen satirischen Roman „Belphegor“ entdeckte und als Dokument „des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses“ rühmte. Das Kasseler Theater ehrte den Sonderling von Sondershausen, wie er gern genannt wird, mit einem Symposion und zwei postumen Uraufführungen. Peter Siefert inszenierte „Eigensinn und Ehrlichkeit“: Er entschied sich für unbedingten Humor. Die Darsteller, vorneweg Sabine Wackernagel (Gräfin), Joachim Berger (Herrmann) und Eva- Maria Keller (Emilie), spielen ihre Affekte, ihre fiebrigen Ekstasen und abrupten Stimmungswechsel an die Rampe, plakativ, kasperltheaterhaft, virtuos. Alles soll ganz, ganz böse sein und ist es gerade deshalb kaum. Herrmann wird nicht – wie im Text– ein widerstrebendes Opfer seiner Ichsucht, dem wohl das schlechte Gewissen die Hochzeitsnacht versauern wird. Er ist von vornherein ein Wendehals, dessen Selbstbezichtigungen bloß rhetorische Übungen sind. Das saugt der Figur das Gift aus den Adern: Das ist kein Produkt der deutschen Misere, keine Mischung aus Aufsteigerehrgeiz und Selbsthaß, sondern ein begabter Überlebenskünstler. Die Wunden, die diese Satire schlägt, sind oberflächlich: Man vergißt sie, ehe man sie spürt. Das Kalkül geht auf, der Jux kommt an: Aber lohnt sich deswegen die Mühe, 200 Jahre altes Stückgut zu heben? Als wären sie ihrem Publikum doch noch etwas schuldig, schieben die Kasseler eine weitere sogenannte Uraufführung hinterher: „Die wilde Betty – Ein Ehestandsbericht“ ist die Geschichte zweier Blaubärte, eines männlichen und eines weiblichen – und unverkennbar ein Prosatext, woran auch Gudrun Leleks Inszenierungsgeschick nicht viel ändern kann. Martin Krumbholz

Johann Carl Wezel: „Eigensinn und Ehrlichkeit“; bearbeitet von Peter Siefert und Verena Joos, mit Sabine Wackernagel, Joachim Berger und Eva-Maria Keller, Theater im Fridericianum, Kassel.