Kriegskrüppel

Was auf dem Felde der Ehre blieb  ■ Von Gabriele Goettle

Im Ersten Weltkrieg herrschte unter den Sanitätsräten helle Aufregung darüber, daß nicht nur einfache Soldaten, sondern auch Offiziere sich zunehmend den Anforderungen des militärischen Handwerkes nicht mehr gewachsen fühlten, daß ihnen die Angst davor, getötet zu werden und zu töten, nicht ausgetrieben werden konnte. Entweder wurden neurasthenische und hysterische Störungen dem Simulantentum zugeschrieben, oder man machte Epilepsie, Depressionen und Alkoholpsychosen zur Ursache verlorengegangener Manneszucht, wobei besonders hervorgehoben wurde, daß diese Erkrankungen vielleicht ein wenig durch den Krieg beschleunigt, nicht aber verursacht wurden. Die Psychosen an sich seien ziviler Natur, wurde erklärt, nur ihr Vorstellungsgehalt würde, aus naheliegenden Gründen, eine vorwiegend kriegsbedingte Färbung annehmen, aber ausgebrochen wären sie in jedem Fall, auch zu Friedenszeiten. Dem Heer selbst bescheinigte man einen hervorragenden Geisteszustand, Mannesmut und Vertrauen in die Zukunft. Negative Einflüsse, wie sie von furchtsamen, kampfunfähigen Soldaten ausgehen, hielt man fern und unter Verschluß. So auch jene Offiziere, die bei der Schlacht um Tannenberg in unheilbare Geisteskrankheit verfielen und noch 1924 die Schreie der russischen Soldaten und Pferde hörten, die 1914 in den Sümpfen versunken waren.

Der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Sandor Ferenczi hat in seinem Vortrag „Über zwei Typen der Kriegshysterie“ (von 1916) einige Beobachtungen geschildert, die er, als Leiter einer Nervenkrankenabteilung, an seinen Patienten machte. Er berichtet von einem Mann, dessen „rechter Arm im Ellbogen spitzwinkelig kontrakturiert“, während der „Oberarm spastisch an den Brustkorb angedrückt erscheint“. Die Anamnese hatte ergeben, daß rechts von dem Mann eine Granate explodiert war, als er gerade auf der Erde lag und, das Gewehr im Anschlag, auf den Feind zielte. Er wurde nicht verwundet, perpetuierte aber seither die Situation, in der ihn die Explosion erschütterte.

Ferenczi berichtet auch über die Kriegszitterer, die, ebenfalls durch Granatenexplosion oder ähnliches tief verstört, keine Kontrolle mehr über sich haben. Jeder Gehversuch versetzt sie in heftiges Zittern, zieht Herzklopfen und Schweißausbrüche nach sich. Liegen sie jedoch im Bett, so sind sie oftmals bester Laune und verfügen über ihre volle Beweglichkeit ohne jedes Zittern.

Der traumatische Moment wird hier entweder durch Erstarrung der Arme oder Verweigerung der Beinarbeit festgehalten, es ist wie ein Protest der Nerven, Muskeln und Bänder gegen den Krieg, in dem es ihnen schlecht ging. Ferenczi vergleicht die Kriegsneurose und ihren körperlichen Ausdruck mit einem Gedenkstein, der starr in die Gegenwart hineinrage, versehen mit der Inschrift dessen, was der Psyche widerfahren ist. Und was ihr widerfahren ist, kann nur als ungeheuerlich bezeichnet werden, sie ist in Berührung gekommen mit einer übermenschlichen Gewalt, die lähmt vor Angst. Es erscheint nur vernünftig, wenn hinfort jeder Gehversuch scheitert. So wird Vorrücken gegen den Feind unmöglich. Wie rührend und originell das Unterbewußtsein durch Pantomime seine Botschaft auseinandersetzt, zeigt sich an Kriegszitterern (die Ferenczi an anderer Stelle erwähnt), die „am Vorwärtsgehen durch heftige Schüttelkrämpfe gehindert sind, aber der viel schwierigeren Aufgabe des Rückwärtsgehens ohne Zittern entsprechen“.

Im Zweiten Weltkrieg war der Kriegszitterer kein besonderes Thema mehr. Offenbar gibt es so etwas wie einen kollektiven Abstumpfungsprozeß, in dem alle Erinnerungen an empfindlichere Reaktionen getilgt werden. Die erstaunliche Fähigkeit der Männer, tage-, wochen-, monate- und jahrelang unaufhörlich gewalttätig zu sein, solange, bis sie außer Gefecht gesetzt werden, hat im Zweiten Weltkrieg sicherlich enorm zugenommen. Die Bereitschaft, unerschütterlich brutalste Gewalt auszuüben und sich antun zu lassen im Gegenzug, nimmt stetig zu. Möglicherweise gehört zum martialischen Selbstverständnis der Glaube an die eigene Unverwüstlichkeit.

Im stickigen Saal drängten sich alte Kameraden mit Krücken und Blindenstock durch die Menge zu ihren Plätzen. Zu Unfallopfern und Behinderten hielt man Distanz, schon deshalb, weil die eigenen Verstümmelungen und Gebrechen im militärischen Einsatz fürs Vaterland erworben wurden und nicht zufällig entstanden oder angeboren sind. Beim Soldaten hat jede Wunde ihren festen Platz in der Geschichte, jeder ehemals Verwundete kann im Schlaf Einheit, Dienstgrad, Schlachtfeld und alle Lazarette nennen, in denen er lag. Da saßen sie nun, die Weltkriegsteilnehmer, immer noch bemüht um Drahtigkeit, mit starren Nacken, allen denkbaren Verstümmelungen und schnarrenden Altmännerstimmen. Sofort als der VdK- Landesvorsitzende sich ins Tonband räusperte, trat Stille ein.

Drei Krüppel waren gar nicht erst hineingegangen, sie saßen draußen auf einer Bank in der Sonne nebeneinander und schwiegen. Der linke, nennen wir ihn Herrn A, hat eine Lederhand, der mittlere, Herr B, war stark gebräunt, nur die knotige Narbe auf seinem Schädel leuchtete weiß und schließlich, Herr C, hatte sein leeres Hosenbein umgeschlagen und oben in den Bund geklemmt, die Krücken lehnten an der Wand.

G: Sie sitzen hier so stumm, gehören Sie zusammen?

B: Nein, überhaupt nicht, ganz zufällig haben wir uns hier gesetzt.

G: Möchten Sie mir was über ihre Kriegsverletzungen erzählen? Ich sehe da diese Narbe auf Ihrem Kopf.

B (lacht): Das stellt einen Kopfschuß dar. Einschuß knapp unterhalb vom – damaligen – Haaransatz, Ausschuß dementsprechend. Kommen Sie ruhig näher, geben Sie mal her ihre Hand, na, sehnse, da können Sie leicht zwei Finger reinlegen. Fühlen Sie, wie das pocht? Da hat mir der Iwan reingeschossen, durch den Stahlhelm durch.

C: Der hält eine ordentliche Kugel nicht ab!

B: Der deutsche Stahlhelm an sich war gut, aber aus Materialknappheit gab's dann auch Qualitätsschwankungen, ich muß wohl einen schlechten erwischt haben. Sooo ein Loch war da drin. Man paßt einen Moment nicht auf und schon: patsch! Das war ein Scharfschütze aus dem feindlichen Schützengraben, keinen Handgranatenwurf entfernt.

G: Und Sie, Sie haben was am Arm, darf ich mal sehen?

A: Ja bitte.

(Er streift den Ärmel hoch und entblößt eine Hand- und Armprothese aus dunkelglänzendem Leder. Sie endet in einer Art ausgepolstertem Maulkorb aus Draht. Zwei Metallschienen mit Gelenken in Ellbogenhöhe führen zu einer Ledermanschette, sie dient zur Befestigung der Prothese am Oberarm. Im Drahtkörbchen ist der Stumpf zu sehen, weiß und formlos windet er sich bei jeder Bewegung des Oberarmes. Er streckt beide Arme aus und hält sie mir entgegen.)

Sehn Sie mal, die ist leider ein ganzes Stück kürzer als mein Arm.

G: Weshalb?

A: Nichts, es gibt keinen Grund dafür. Sie paßt nicht, hat noch nie gepaßt. Ich hätte längst eine andere haben können, aber ich bleibe bei dieser (er klopft mit dem Knöchel seines Zeigefingers darauf), ich bin es so gewöhnt.

C: Genau auf dem Standpunkt stehe ich auch, ich bin nur momentan etwas wund gelaufen, deshalb habe ich die Stöcke.

A: Das passiert leicht, na, jedenfalls habe ich bei all dem noch Glück gehabt, muß man sagen, die gingen ja überall hoch, die Dinger. Meinen Kameraden, den hat's zerrissen neben mir. Von dem war kein Fetzchen mehr übrig. Zuerst habe ich eine ganze Weile nichts gespürt, keinen Schmerz, gar nichts...

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C: Ganz genauso war es bei mir auch, als wäre nichts geschehen.

G: Ihnen fehlt das Bein.

C: Das will ich meinen. Immer noch, ja! Daran gewöhnt man sich wohl nie, man spürt Phantomschmerzen und alles. Nur als es passiert war, nichts. Es war eine Granate, ich hab sie pfeifen hören. Sie wissen, was das bedeutet?

G: Ja.

C: Als ich wieder zu mir kam, lag ich drei Meter weg von meinem Bein.

A: Eijeijeijei, das hat geblutet, oi weh. Ich bin auch gelegen und hab zugeschaut, wie das Blut rauslief (er hält seinen Lederarm in die Höhe und betrachtet ihn voller Mitleid).

B: Mhmm. Na Hauptsache, man konnte sein Leben retten.

A: Früher konnte ich mir sogar noch die Schuhe alleine zumachen mit dem Arm da, heute bin ich nicht mehr so beweglich, leider (lacht etwas dreckig). Damals war ich neunzehn.

B: Wir werden alle nicht jünger. Ich war 23, als es passiert ist, sooo ein Kerl, ein Bild von einem Mann – wie wir alle. Ich riß mir den Helm runter, so heiß war das Blut, dann bin ich in den Schlamm gefallen, ein Kamerad hat mich ins Unterholz gezogen, mit dem bin ich noch zwei Kilometer gelaufen bis zum Verbandplatz.

C: Ganz unglaublich heute, was man geleistet hat damals, diese Tapferkeit und Härte. Aber wir waren auch noch gründlich gedrillt worden. Die jungen Männer heute, wenn ich die so sehe, von denen würde keiner auch nur eine Woche durchstehen.

B: Ich war sportlich sehr interessiert, war im Ruderclub, hab das Reichsjugendabzeichen gemacht und das SA-Sportabzeichen in Silber... die Nadel hab ich heute noch... jedenfalls, ich wollte ja was anderes erzählen, auf dem Verbandplatz hat man mich auf eine Trage gelegt, der Sani kam und sagte gleich: ,Mann, Ihnen kann ich hier leider nicht helfen, Sie gehn gleich mit dem Transport ins Lazarett‘. Dort kam der Doktor, fragte: ,Wer hat die meisten Schmerzen?‘, ich hab meinen Finger gehoben und kam gleich auf den Tisch, von da an weiß ich nicht, was sie mit mir gemacht haben.

A: Sie müssen ja bedenken, daß die kein Chloroform da hatten und nichts, größtenteils.

B: Insofern kam eine Ohnmacht gerade richtig.

C: Bei mir leider nicht. Bei vollem Bewußtsein haben sie mir den zersplitternden Knochen abgesägt und, was zu viel war, runtergeschnitten. Vier Mann mußten mich halten. Erst als alles fertig war, bin ich denen weggesackt.

A: Und dann lag man herum, in überfüllten Sälen, mußte mit ansehen, wie die anderen heimkonnten, während sie an einem rumdoktern. Nichts als Eiter, Drainagen, Eiter, Drainagen...

B: Der Eiter floß ununterbrochen. Aus dem Kaliumpermanganat haben sie Schreibtinte gemacht und was weiß ich noch, auch Verbandsmaterial gab's nicht. Alle lagen da mit offenen Wunden und haben zugesehen, wie sich die Maden vermehren. Solche Würmer hatte ich auf meinem Kopf. Der Sanitätsfeldwebel hat immer gesagt: ,Männer, laßt die Maden, wo sie sind, die halten euch die Wunden besser sauber als Schwester Eulalia!‘

C: Na schaun Sie mal an, davon hat man läuten hören. So was gab's in Berlin natürlich nicht, ich hab ja in Berlin beim Endkampf mitgemacht.

G: Ich komme grade aus Berlin.

C: Vielleicht werden Ihnen ja dann die Örtlichkeiten etwas vertraut sein: Frankfurter Allee, Landsberger Allee, Friedensstraße, Richthofenstraße? Da war ein großer Friedhof, das Horst-Wessel-Krankenhaus und Brauereien, diesen Abschnitt hatte ich zu verteidigen mit meinen Männern. Ich weiß noch genau, der Friedhof hieß Parochial- und St. Petri Friedhof, kennen Sie den?

G: Nein.

C: Wir lagen unter Trommelfeuer, ich hatte große Verluste. Wir gingen in Deckung hinter die Grabsteine, dann ist es passiert. Ein Splitter da, ein Splitter da, alles noch drin (er deutet auf Oberschenkel und Gesäß). Man hat mich zum Zoo gebracht, dort war ein Hochbunker, und da hat man mich dann zurechtgestutzt und nach einem halben Jahr hab ich geübt auf Krücken gehen. So wäre ich wahrscheinlich in russische Gefangenschaft gekommen...

B: Oder, mein Guter, der Iwan hätte Sie vollends erwischt.

C: Ohne weiteres möglich.

B: Ich war in Rußland, bei der Belagerung von Leningrad.

C: Aha!

B: Ach, da hab ich Tausende sterben sehen.

G: Leningrader.

B: Wie? Nein, Deutsche, Kameraden. Tag und Nacht hatten wir Artilleriefeuer, die wollten und wollten nicht kapitulieren. 1943 hat der Russe dann zur Befreiungsschlacht angesetzt...

G: Wissen Sie, wie viele Leningrader verhungert sind bei dieser Blockade?

B: Wie viele? Nein, also im Moment könnte ich Ihnen das leider nicht beantworten.

C: Mindestens 50.000.

G: 800.000.

B: Ist nicht möglich! Da bin ich aber überrascht, ich wußte gar nicht, daß die Stadt so viele Einwohner hatte? Na jedenfalls, unsere Division wurde verlegt, zur Verstärkung ins Wolchow-Gebiet, wir sollten den Russen aufhalten. Da lagen wir im Dreck. Sumpfgegend, Stechmücken... am 26. Oktober 43, Vormittag halb elf war's, da hat er mir den Kopfschuß verpaßt, der Iwan. Daß Sie einen Menschen wie mich überhaupt noch antreffen, einen der überlebt hat, das ist das reine Wunder.

A: Wenn man das so bedenkt, unsere Generation, die hat was mitgemacht und das in der Blüte ihrer Jahre. Ich war auch im Osten, aber nur auf der Festung Thorn.

G: Wo ist das?

A: In Westpreußen, ganz in der Nähe von Bromberg...

G: In Polen also.

A: ... ja, also das war an der Weichsel. Ende Januar 45 rückten russische Panzerverbände an, dahinter Infanterie in Waffen. Die waren auf dem Vorstoß nach Westen. Ich war ja nur im Pionierausbildungsbataillon, aber die anderen Kompanien haben angefangen, die Festung zu verteidigen, obwohl wir gar nicht angegriffen wurden. Um Mitternacht kam der Befehl zum Ausbruch. Draußen war die Hölle los, die vor uns raus waren, lagen schon alle da in ihrem Blut. Jeder hat sich versucht zu retten, so gut er konnte. Ich bin mit einer Gruppe bis zur Weichsel gekommen, dort waren Minen unterm Schnee. Ein Kamerad aus meiner Gruppe hat mir, als es passiert war, den Oberarm abgebunden, und so bin ich dann über den Fluß gekrochen im Morgengrauen. Weil Tauwetter war, schwamm das ganze Schmelzwasser auf der Eisdecke, es war glatt, überall lagen Leichen, das Eis war an manchen Stellen rot. Von den 150 Mann meiner Kompanie sind nur ich und drei weitere übrig geblieben.

C: Viele sind nicht wieder gekommen. Manche sind in Gefangenschaft geraten, die meisten sind im Osten gefallen.

B: Fünf Millionen mindestens.

C: Mein Bruder ist in Stalingrad vermißt, er war Geistlicher. Die Eltern hatten sich unser Studium vom Munde abgespart.

B: Mein Vater ist auch vermißt, er war in Odessa.

C: Ich selbst war ja auch in Rußland, bis Rostow am Don. Rechtzeitig bin ich versetzt worden. Von denen dort hat kaum einer überlebt. Wenn Sie sich das vorstellen könnten, was wir mitmachen mußten, Sie würden die Flucht ergreifen vor uns. Ich war im Panzer, im Panzer war ich, und ein Zug, der besteht aus fünf Panzern. Ich war selbstverständlich, mit Abitur und Studium, der Zugführer. Ein Leben war das, immer im heißen öligen Tank, nicht gewaschen, wenig gegessen, wenig geschlafen. So was kann man heute gar nicht mehr verstehen. Aber man mußte hart sein können, sonst gab's kein Überleben. All die Sachen wirft man uns bis heute vor. Aber der Weizsäcker, der war doch auch Offizier und auch im Osten, na bitte!

An einem einzigen Tag sind mir alle fünf Panzer getroffen worden, ich kam grade noch raus. Alle 25 Mann sind in wenigen Minuten verbrannt, bei lebendigem Leibe. Die Todesschreie vergißt man nicht so leicht. Im Frankreichfeldzug bin ich auch schon abgeschossen worden, und in Jugoslawien habe ich gestanden, gegen die Partisanen gekämpft... da ist ja jetzt schon wieder ganz schön was am Kochen...

A: Die geben keine Ruhe.

B: Da schlägt ja jeder jedem den Schädel ein, hoffen wir nur, daß es sich nicht ausweitet.

C: Wir sind ja nun zu alt für solche Scherze.