Marx „wußte nicht, wie das anderswo läuft“

■ Ernest Mandel, Gregor Gysi und Oskar Negt diskutierten über die Oktoberrevolution

Berlin (taz) – „Das ist hier ja fast so wie früher“, freute sich der Geschichtsstudent der Humboldt- Universität, der die Diskussion über die „Aktualität der Oktoberrevolution“ eröffnete. Wie in den stürmischen Endzeiten der DDR war das Audimax der Ostberliner Universität an diesem Sonntag abend bis auf den letzten Platz besetzt. Viel schlohweißes Haar und ergraute Bärte waren im Publikum zu sehen, auch ganz junge Leute waren gekommen. Die dazwischenliegenden Generationen aber glänzten durch Abwesenheit.

Oben auf dem Podium diskutierte eine Runde dreier Herren, die sich seit Jahren mit Revolutionen befassen. 75 Jahre danach erklärte der Trotzkist Ernest Mandel: „Ich stehe hundertprozentig zur Oktoberrevolution.“ Der PDS-Chef Gregor Gysi konstatierte: „Ich habe auch nicht teilgenommen. Aber ohne sie wäre ich ein anderer geworden.“ Distanzierter der Sozialwissenschaftler Oskar Negt: „Mein Leben wäre ohne Oktoberrevolution vielleicht ähnlich verlaufen“, sagte der Sprößling aus sozialdemokratischem Elternhaus, der Marx erst als Schüler eines Jesuiten in Oldenburg kennenlernte.

Die Oktoberrevolution an sich war ein „wichtiges emanzipatorisches Ereignis“. So weit stimmten die drei Revolutionsexperten überein. In der Einschätzung der weiteren Entwicklung freilich lagen sie weit auseinander. Mandel, der gerade ein ganzes Buch zur Ehrenrettung der Russischen Revolution veröffentlicht hat („Oktober 1917“, ISP-Verlag), erklärt die späteren Ereignisse in der Sowjetunion mit einer „Konterrevolution“. Die „Akteure der Oktoberrevolution“ hält er für daran unschuldig. Vielmehr seien sie selbst der Konterrevolution zum Opfer gefallen.

Ganz anders Gysi. Der DDR- erfahrene Politiker meint, daß der Stalinismus schon in der Oktoberrevoultion angelegt war. Die Revolutionäre hätten die „große Chance, die Macht für immer anders zu verteilen“, nicht richtig genutzt. Die Machtfülle in der Hand des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei habe nicht einmal Lenin problematisiert – auch dann nicht, als er von seinem Sterbelager aus vor dem Genossen Stalin warnte. Zwangsläufig mißlingen mußte die Revolution laut Gysi in den übrigen osteuropäischen Ländern, in die sie nach dem Zweiten Weltkrieg exportiert wurde. „Vielleicht“, so Gysi, „hätten damals Italien oder Frankreich die Bedingungen für den Sozialsmus erfüllt – Bulgarien und Rumänien jedenfalls nicht.“

Noch weiter zurück in die Geschichte griff der Sozialwissenschaftler Negt. Er glaubt, der Fehler war schon bei Marx angelegt, der „nur die Entwicklung in England kannte, aber nicht wußte, wie das anderswo läuft“. Die russische Revolution aber sei von dem Wunsch ausgegangen, den Ersten Weltkrieg zu beenden und habe die Hauptforderungen „Frieden jetzt“ und „alle Macht den Bauern“ gehabt. „Geschichtliche Situationen“, so Negt, „kann man sich eben nicht aussuchen.“

Auf die unvermeidliche Frage nach dem „Was tun?“ haben die von der PDS und der trotzkistischen Zeitschrift Inprekorr geladenen Herren unterschiedliche Antworten. Mandel empfiehlt, weiterhin auf die „Selbstbefreiung der Arbeiterklasse“ zu setzen. Die könne, so seine Prognose, eine ganze Weile auf sich warten lassen – „vielleicht noch 100 Jahre“ –, aber kommen werde sie bestimmt.

„Genosse Gysi“ ist skeptischer, was die Proletarier als revolutionäre Subjekte betrifft. Er will es lieber klassenlos mit der „Befreiung des Menschen durch den Menschen“ versuchen. Parteien seien „zwar nicht das Gelbe vom Ei“, aber bessere reale Alternativen gebe es nicht.

Für Negt – „Ich bin kein Sozialdemokrat“ – gibt es außer der Oktoberrevolution eine Menge anderer Beispiele emanzipatorischer Politik. Die leninsche Organisationsform hält er für völlig überholt. Selbst an der Notwendigkeit nicht-leninistischer Parteien hegt er Zweifel – an ihre Stelle könnten heutzutage Sammlungsbewegungen treten. In jedem Fall sei Bescheidenheit angebracht. Negt: „Wir müssen zu kleinen Formen der Veränderung übergehen – kleine Brötchen backen.“ Dorothea Hahn