: Einerseits will er mit seiner bisherigen Deutschland-Politik recht gehabt haben, andererseits nun aufgrund der dramatischen Situation Korrekturen vornehmen. Kennzeichnend für die Schwierigkeiten, die Kanzler Kohl auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf bewältigen muß, ist der Spagat zwischen konsequentem Sparen und höheren Steuern.
CDU nimmt Zuflucht zur Wahrheit
Fast eine Minute dauerte es, bis die Delegierten aufstanden, um ihrem Parteivorsitzenden die obligatorischen Standing ovations zu liefern. Helmut Kohl, der fast darauf abonniert war, CDU-Parteitage in Jubelfeste zu verwandeln oder zumindest doch in freundliche Familienfeste, konnte diesmal nicht begeistern. Sein designierter Generalsekretär Peter Hintze, der in dieser Eigenschaft zum ersten Mal vor dem Parteitag stand und um die bisher fehlende Legitimation durch das Parteivolk warb, traf zunächst sogar auf völlige Unaufmerksamkeit. Als er redete, sammelte man sich eben erst wieder – nach der Mittagspause, nicht berauscht, aber wohl doch zufrieden mit der Rede des Kanzlers.
An der war bis zur letzten Minute gefeilt worden, genauso wie am entscheidenden Bundesvorstandsantrag. Erst am Sonntag, als die Delegierten schon angereist waren, stand fest, daß vom Parteitag das Signal zu Steuererhöhungen ausgehen würde. 1995, so die Botschaft des Kanzlers, werden Steuererhöhungen auf die Bürger zukommen, damit die deutsche Einheit finanzierbar wird. Der Beschluß kam gerade noch rechtzeitig, denn in den letzten Tagen vor dem Parteitag war überdeutlich geworden, daß die ungeklärten Finanzierungsfragen die Partei in fast unberechenbare Spannung versetzt hatte. Das Parteitagsmotto „Wir gewinnen mit Europa“, zum guten Teil ohnehin ein Fluchtversuch vor der ungemütlichen deutschen Einheitsrealität, schien in Gefahr, ganz ausgehebelt zu werden: von unzufriedenen Delegierten aus dem Osten, die deutliche Prioritäten sehen wollen; von westdeutschen Landes- und Kommunalpolitikern, die befürchten, mit Steuererhöhungen ins Wahlkampfjahr zu geraten; durch Wahlentscheidungen, bei denen die Frustration sich Ventile sucht. Der Befreiungsschlag im Vorfeld ersparte es Kohl, die unpopuläre Ankündigung auszuwalzen. In seiner Rede hieß es schlicht: „Ich gehe davon aus, daß zur Bewältigung der finanziellen Erblast Einnahmeverbesserungen notwendig sein werden. Sonst werden wir die 1995 anstehenden Belastungen aus dem Erblastfonds und der Einbeziehung der neuen Bundesländer in den Länderfinanzausgleich nicht schultern können.“ Gleich darauf folgte der nochmalige Appell zum konsequenten Sparen – und die Ankündigung vorgezogener Steuererhöhungen: „Wer jetzt seinen Beitrag – bespielsweise zu Einsparungen und Umschichtungen – verweigert, trägt die Verantwortung dafür, wenn die Belastungen für den Bürger schon bald erhöht werden müssen.“ Nämlich früher und höher.
Der Spagat zwischen konsequentem Sparen und höheren Steuern ist kennzeichend für die Schwierigkeiten, die Kohl auf diesem Parteitag bewältigen muß. Höhere Steuern, in den letzten Wochen fast zum Allheilmittel avanciert, paßten nämlich bis gestern weder dem Koalitionspartner FDP so recht, noch der christlich-sozialen Schwesterpartei und Finanzminister Theo Waigel. Auch bei vielen westlichen Delegierten stieß die Ankündigung nicht nur auf Gegenliebe: Manche halten sie einfach für eine unpopuläre Maßnahme. Im schriftlichen Manuskript stand immerhin noch: „Wachstum, Stabilität und Steuersenkungen sind die Markenzeichen dieser Politik.“ Die Steuersenkungen ließ Kohl in seiner mündlichen Fassung notgedrungen weg.
Kohls Rede war der angestrengte Versuch, die Balance zu halten. Der Parteivorsitzende will mit seiner Politik Recht gehabt haben – und jetzt doch Korrekturen vornehmen. Er will Sparen, sparen, sparen – und demnächst mehr Geld von den Bürgern verlangen, allerdings erst nach der nächsten Wahl. Blut, Schweiß und Tränen – von dieser Art war Kohls Rede nicht. Aber die Selbstgewißheit und Schönfärberei der Parteitagsreden von 1990 und 1991 stand nicht am Anfang des Düsseldorfer Parteitags. „Machen wir uns keine Illusionen: Das wiedervereinigte Deutschland erfordert mehr als eine bloße Fortsetzung bewährter Politik“, so eine typische Wendung dieser Rede.
Wer das als selbstkritische Äußerung verstehen will, für den brachte Kohl gleich wieder die richtige Relation: „Wir haben die Einheit gewollt. Wir haben sie gewollt im vollen Bewußtsein der historischen Dimension der damit verbundenen Aufgaben.“ Sofern es Fehleinschätzungen gegeben haben mag, gab es auch Gründe, die nicht bei Kohl oder seiner Partei lagen. „Heute wissen wir, daß die Hinterlassenschaft des SED-Regimes weitaus verheerender ist, als von irgendjemand angenommen.“ In dieser Hinsicht folgte der Parteivorsitzende schon bekannten Argumentationsmustern. Seine Eckpunkte und die fünf Punkte für den Aufschwung Ost sind jedoch nüchterner und konkreter geworden: Sparhaushalt 1993, Solidarpakt, Konsolidierung auch bei Ländern und Kommunen, Verwaltungs- und Rechtsvereinfachungen noch in diesem Jahr, der Bund-Länder-Finanzausgleich. Für alles versprach Kohl seiner Partei Mut und Entschlossenheit. Daß dabei das meiste so unscharf bleibt wie Art, Umfang und Dauer der für 1995 angekündigten Steuerhöhungen, das wird die CDU ihrem Vorsitzenden und Kanzler wohl nachsehen. Tissy Bruns, Düsseldorf
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