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Ein wunderbarer Waschsalon

Harry Kupfers und Daniel Barenboims „Parsifal“ an der Berliner Lindenoper  ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer

Geschichten gibt's, die kann nur das Leben selbst erfinden. Da spritzt zum Beispiel am Sonntag abend in der Lindenoper in Berlin eine Dame der anderen das Handtäschchen naß. Und zwar aus Versehen, mitten in der ersten Aktpause, im Damenklo. Und schon stellt sich heraus: Beide kommen zufällig aus New York. Die eine ist extra zur Premiere eingeflogen, die andere weilt sowieso für länger hier, aber beide pilgern regelmäßig nach Bayreuth. Da stehen sie nun Spiegel an Spiegel ins Gespräch vertieft, bessern die Gesichter aus und hecheln gemeinsame Bekannte durch.

Woran zu sehen ist: Berlin- Mitte hat die Provinzialität hinter sich gelassen und befindet sich endlich auf Weltniveau, beinahe so wie Bayreuth. Die beiden Damen im Waschraum können sich Zeit lassen, denn die Pause ist sehr lang, beinahe so lang wie in Bayreuth. Auch treffen sie eine Menge gemeinsame Bekannte: Das Bayreuther „Ring“-Team Daniel Barenboim/Harry Kupfer dirigiert und inszeniert heute Wagners „Parsifal“. Die Kundry ist besetzt mit der seit neun Jahren amtierenden offiziellen Bayreuth-Kundry (Waltraud Meier). Sowohl Parsifal (Poul Elming) als auch Klingsor (Günter von Kannen) und Gurnemanz (John Tomlinson) sind Bayreuth-erprobt, und der Amfortas (Falk Struckmann) wird demnächst in Bayreuth debütieren. Sie alle singen sehr gut (wie es sich an einem Hause wie diesem gehört) bis hinreißend (wie man es an diesem Hause seit längerem nicht mehr gehört hat). Und sogar die Akustik ist, nun ja, ein klein bißchen beinahe so wie in Bayreuth. Denn man hat das Bühnenportal der Lindenoper für diese Inszenierung seitlich, oben und unten mit Stoffbahnen bespannt, die die schallschluckenden Proszeniumslogen sowie den Bühnenhimmel darüber abdecken und den Schauraum verwandeln in eine große, dunkel gähnende Flüstertüte.

Die hilft dem Orchesterklang prächtig auf die Füße, wie besonders gut bei geschlossenem Vorhang, etwa im Vorspiel, zu merken ist. Das Unisono steigt erst kahl und mager aus dem Graben auf, so, wie es ist. Dehnt sich dann aus und fließt in die Breite, wie es sein soll. Und nimmt Gestalten an wie der Flaschengeist aus der Wunderlampe – bloß weitaus erhabener und heiliger: Denn hier geht es, nach dem Willen des Meisters und wie deutlich zu hören ist, ausschließlich um „Liebe, Glaube, Hoffnung“. Um abgedroschene Phrasen also. Um ein verquastes Kauderwelsch aus allerlei abend- und morgenländischen Mythenblüten. Um kitschige christliche Heiligenbildchen und um philosophische Plattitüden. Und, immerhin, um jene weltbewegend banale Musik, die in schlichter Harmonik treppauf, treppab fürbaß schreitet und mit wenigen instrumentalen Taschenspielertricks große Bewegungen vorzutäuschen weiß. Kurz: um eben jenen höheren musikalischen Blödsinn, der seine volle narkotische Wirkung nur entfaltet, wenn man sich ihm bedingungslos an den Busen wirft.

Barenboim traut sich. Er wühlt sich samt seiner Staatskapelle, die so achtbar sauber und zugleich schwungvoll spielt wie seit langem nicht mehr, auf das brünstigste hinein in Wagners wundersam wabernde Klangschwaden. Barenboim zelebriert zähflüssig jeden Ton, jeden Schritt, jede Pause. Und gestattet sich dabei gefühlige Unregelmäßigkeiten und agogische Manierismen, die auch noch den allerletzten Anstandsrest von Rhythmus und Struktur dahinschmelzen lassen. Das kommt gut, jedenfalls für alle einheimischen und angereisten Wagnerianer. Für den Teil des Premierenpublikums freilich, der kollektive Besäufnisse normalerweise meidet und vielleicht immer noch meint, man müsse bei Wagner irgendwie einen Sinn herausanalysieren (für die der Abend also eher eine Qual war) – die hätten ja auch zu Hause bleiben können. Und sollten sich das gut merken für das nächste Mal: „Parsifal“ war nämlich nur der Anfang – Barenboim, der anjetzo nun endlich und mit großem Bahnhof prima volta als Chef der Lindenoper ans Pult getreten war, hat uns für die nächsten zehn Jahre Wagners sämtliche Werke angesagt.

Wobei ihm Harry Kupfer weiterhin treu zur Seite stehen will. Für diesen „Parsifal“ – es ist sein zweiter am Hause – hat er sich wieder einmal etwas pädagogisch sehr Wertvolles ausgedacht. Die keusche Gralsritterschaft bewegt sich in kühl chromglitzernder Technologie so gut wie gar nicht, schließlich handelt es sich um dogmatisch erstarrte Männerbündelei. Die lüsterne Gegenwelt des Zauberers Klingsor ist ebenfalls von Übel und nimmt sich deshalb ganz ähnlich aus. Heftig winken dazu aus dem Bühnenbild (Hans Schavernoch) die einschlägigen Symbole heraus. Heiliger Speer und heiliger Gral (sonst gerne auch interpretiert als wahlweise Penis und Vagina, Macht und Geist, Hammer und Amboß) treten diesmal außer als handliche, plexigläserne Requisiten auch noch auf im überdimensionalen Science-fiction-Kostüm: als rundes Schleusentor, das sich gefährlich öffnet, schließt und verschiebt – sowie als von innen leuchtende, lange spitze Messerzunge, die sich atemberaubend hebt und senkt. Ein schöner Beweis, wie phantastisch geräuschlos die Bühnenhydraulik der Lindenoper neuerdings zu arbeiten weiß. Aber zugleich stellt sich der beim besten Willen nicht abzuschüttelnde Verdacht ein: Hier gehe es, so lässig, wie sich die Sänger da auf der Leuchtzunge herumräkeln, irgendwie im Grunde nur um die Präsentation des neuesten Designer-Sofas. Und in der großen Waschmaschine, die da oben auf der Bühne unentwegt ihre Tür auf- und zuklappt, wird vermutlich nach der richtigen Lösungsformel dafür gesucht, wie der reine Tor trotz allem sauber abgewickelt werden kann. Dem Toren, so zeigt es dann der letzte Akt, ist sowieso alles rein. Parsifal braucht, weil „welthellsichtig“ geworden, keinen wunderbaren Waschsalon mehr. Einfache Fußwaschung reicht, wie gehabt. Aber dann folgt ganz unerwartet der Knüller dieser Inszenierung: Die sündige Kundry darf, nachdem sie also gebüßt hat und getauft ist, weiter mitspielen. Sie sinkt nicht, wie von Wagner vorgesehen, entseelt zu Boden. Vielmehr tritt sie am Ende als barfüßige Maria selbdritt mit Parsifal und Gurnemanz vor den fallenden Vorhang und blickt stumm ins Publikum. Und man merkt den dreien an: Sie leiden furchtbar weiter an all diesen leider unlösbaren gesellschaftlichen Widersprüchen, von denen Harry Kupfer im Programmheft wieder einmal so bewegend zu berichten weiß.

Die Wagnerianer waren echt empört darüber, daß Kupfer so entscheidende Eingriffe in die dramaturgische Substanz des Werkes vornahm. Andere wiederum freuten sich, daß endlich einmal etwas Neues passiert. Im übrigen sollte man Kupfer diese wie andere holzschnittartige Einfälle für diesmal nachsehen, denn es kamen bei aller Inkongruenz von Bild und Ton doch immerhin drei bis vier wirklich eindrucksvolle Szenen heraus: vor allem im zweiten Akt, zum Beispiel. In der Cyberspace-mäßig gestylten Verführungsszene der Blumenmädchen. Überhaupt, das nur nebenbei, gerät der zweite „Parsifal“-Akt in jeder Hinsicht – musikalisch wie szenisch – immer viel besser als der erste. Und es wäre darum aus rein volkswirtschaftlichen Gründen einmal zu erwägen, warum man nicht hochkarätige „Parsifal“-Aufführungen wie diese, die das Werk völlig zu Recht als bekannt voraussetzen, gleich mit dem zweiten Akt beginnen läßt; worauf dann sofort der dritte folgen könnte und der erste (natürlich gegen einen kleinen Aufpreis) nur besonders hartgesottenen Wagnerianern als Zugabe nachgereicht zu werden bräuchte.

Das Programmheft zum neuen Berliner „Parsifal“ verdient besondere Erwähnung: Es hat 154 Seiten und kostet bloß 14 Mark, ist nobel gesetzt, golden illuminiert, mit vielen Fotos, einem Faksimile und drei Originalbeiträgen versehen und außerdem richtig ordentlich gebunden. Das Bemerkenswerteste aber daran ist: Drinnen findet um drei Ecken ein seltsamer Weißwäscher-Kongreß statt. Da sagt Harry Kupfer (Seite 97), daß Hans Mayer gesagt habe, daß die „Parsifal“-Musik überhaupt nichts mit Antisemitismus zu tun habe. Hans Mayer sagt das zwar so eben genau gerade nicht (Seite 40). Er sagt vielmehr, daß man Hartmut Zenlinsky mit seinem berühmten Aufsatz über Wagners Antisemitismus immer noch ernst nehmen sollte (Seite 37 f.). Auch wenn manche Leute dies neuerdings rollbackmäßig wieder „abstrus“ finden und, wie etwa ein Berliner Musikkritiker (Seite 49 ff.), ganz im Gegenteil behaupten, der „Parsifal“ und überhaupt Wagner und Wagners Werk haben mit Rassenlehren gar nichts zu tun gehabt. Wer weiß, wer in diesem wundersamen Waschsalon demnächst noch alles weißgewaschen werden wird.

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