„Keine Chance für Grimethorpe“

Kurz vor der Schließung ihres Kohlebergwerks sind die Kumpel der Verzweiflung nahe/ Ihre letzte Hoffnung ist ein Generalstreik/ In die britische Regierung haben sie kein Vertrauen mehr  ■ Aus Sheffield Ralf Sotscheck

Der riesige Motor in dem grünen Turm über dem Schacht setzt sich mit lautem Surren in Gang. Über eine Winde zieht er ein dickes Seil aus einem etwa 15 Quadratmeter großen, schwarzen Loch im Boden. Nach einer Weile sind Stimmen zu hören. Schließlich erscheint ein Gitterkäfig an der Oberfläche, der mit einem Ruck zum Stehen kommt. Drei Dutzend rußverschmierte Männer mit schmutzigen weißen Helmen springen aus dem Fahrstuhl und laufen eine mit Wellblech überdachte Rampe hinunter zu den Waschräumen. Schichtwechsel im Kohlebergwerk Grimethorpe in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire.

„Wir wissen überhaupt nicht, was los ist“, sagt der 34jährige Jack und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Letzten Mittwoch hieß es, daß wir eine Galgenfrist von 90 Tagen bekommen und solange normal weiterarbeiten. Heute früh erklärt uns die Geschäftsführung, daß am 31.Oktober Schluß ist.“ Kevin, der Vorarbeiter, fügt hinzu: „Ich bin am Ende. Mit meinen 50 Jahren gibt es für mich nirgendwo mehr einen Job.“

Setzt er noch Hoffnung in die versprochene Untersuchung der Stromindustrie? Der kleine rothaarige Mann lacht sarkastisch. „In diese Regierung habe ich kein Vertrauen mehr“, sagt er. „In den vergangenen zehn Jahren kam jede sogenannte Untersuchung über bestimmte Bergwerke zum selben Ergebnis: Stillegung. Meine einzige Hoffnung ist ein Generalstreik. Die Demonstrationen aus Solidarität mit uns sind einfach phantastisch.“ Kevin hält einen in Messing eingefaßten Glasbehälter mit silbernem Deckel hoch: „Den nehme ich mir als Andenken mit. Braucht ja doch niemand mehr.“ Das Gefäß ist ein Gasdetektor, den ein Vormann unter Tage ständig bei sich hat. Früher benutzte man dafür Kanarienvögel in tragbaren Käfigen. „Wenn der Vogel von der Stange fiel, mußte man sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen“, sagt Kevin.

Über der Rampe und am Fahrstuhl hängen zahlreiche Warnschilder: „Durchsucht eure Taschen!“ Feuerzeuge, Streichhölzer und auch Zigaretten dürfen nicht in die Grube mitgenommen werden. „Wer Zigaretten in der Tasche hat, könnte in Versuchung kommen“, erklärt der Vormann. „Damit würde er nicht nur sich, sondern Hunderte Kollegen gefährden.“

Neben der Rampe fördert ein Fließband mit ohrenbetäubendem Lärm die Kohlebrocken in eine Halle. Schräg gegenüber liegen die Verwaltungsbüros. Das kleine Zimmer am Ende des Flachbaus ist zu einem Vogelkäfig umgebaut, in dem zwei Kanarienvögel herumflattern. „Die halten wir aus Tradition“, sagt Kevin. „Sie müssen nicht mehr in den Schacht hinunter.“

Neben dem Verwaltungsgebäude steht das Waschhaus, ein zweistöckiges Gebäude aus Backstein, das in eine „saubere Seite“ mit gelben Spinden und eine „schmutzige Seite“ mit roten Spinden unterteilt ist. Dazwischen befinden sich die Duschen. Niemand darf in Arbeitskleidung die saubere Seite betreten. Das obere Stockwerk ist nicht mehr in Betrieb, seit die Belegschaft auf 960 Mann halbiert worden ist. Ein älterer Mann mit einer dicken Goldrandbrille und einer karierten Schirmmütze kommt aus dem Waschhaus. Auf der Schulter trägt er einen braunen Pappkarton mit Spezialseife, den er mit einem aufgespannten Schirm vor dem Regen schützt. Jim arbeitet seit 36 Jahren im Bergwerk Grimethorpe. „Ich wollte mich mit Würde pensionieren lassen“, sagt er, „aber die Würde haben sie uns genommen. Wenn Erdgas billiger wäre, würde ich es verstehen. Aber alle Statistiken sprechen für Kohle. Es ist so tragisch.“ Noch vor zwölf Monaten hat ein US-amerikanisches Expertenteam bestätigt, daß Grimethorpe Gewinn abwirft, erzählt Jim. Während er spricht, laufen ihm Tränen über die Wangen. „Gott hat die Welt geschaffen, und er hat uns für unseren Energiebedarf die Kohle gegeben. Es ist unser von Gott gegebenes Recht, sie abzubauen.“

Ein jüngerer Kollege, der 35jährige Fred Hewitt, legt seinen tätowierten Arm auf Jims Schulter und sagt: „Wir sind alle völlig demoralisiert. Mir hat man eine freiwillige Zwangskündigung angeboten. Was das ist, konnte mir niemand erklären. Aber wenn wir nicht unterschreiben, verlieren wir auch noch die Bonusprämien. Möglicherweise kommt es hier noch zur Aussperrung. Es wird ein beschissenes Weihnachtsfest werden.“ Jim stimmt ihm zu: „Keiner weiß, was er machen soll – unterschreiben und die Entlassungsabfindung kassieren oder bis zum Ende bleiben und alles riskieren.“

Ein etwa 40jähriger Kumpel tritt hinzu. Er ist fast zwei Meter groß, trägt eine schwarze Lederjacke und einen silbernen Ohrring. „Da unten sind brandneue Maschinen, die Leute sind arbeitswillig, das Werk macht Profit“, sagt er wütend, „aber trotzdem ist hier Schluß. Sie erpressen uns, damit wir den verdammten Wisch unterschreiben. Dann können sie sich ins Unterhaus stellen und behaupten, daß sie das Bergwerk dichtmachen mußten, weil es keine Arbeiter mehr gab.“

Inzwischen strömen Bergarbeiter in Scharen auf den Ausgang zu. Gegenüber der Rezeption liegt ein kleiner, gepflegter Garten mit dunklen Holzbänken und Tischen. „Vor zwei Jahren war das noch eine Müllhalde“, sagt Peter, der in der Rezeption arbeitet. „British Coal hat das Stück Land dann gekauft, und wir haben den Garten angelegt. Seit ein paar Jahren legt das Management Wert auf die Umwelt. Zwar liegt überall noch viel Müll herum, aber das ist kein Vergleich zu früher.“ Peter arbeitet seit 30 Jahren für British Coal, seit 15 Jahren in Grimethorpe. „Wir hatten gehofft, das hundertjährige Bestehen des Bergwerks feiern zu können. Daraus wird nun nichts.“ Das Werk wurde 1894 gegründet.

Als die Wolkendecke für ein paar Minuten aufbricht und die Sonne durch den strömenden Regen scheint, deutet Peter auf den Regenbogen, an dessen Ende sich ein Topf voll Gold befindet, wie die Legende sagt. „Keine Chance für Grimethorpe“, meint Peter, „das Ende des Regenbogens liegt vermutlich genau im Westminster- Parlament.“

Vom Eingang führt eine kurzer Weg vorbei am Werksparkplatz auf Grimethorpes hufeisenförmige Hauptstraße. Die Bewohner nennen ihren Ort zu Recht „Grimy“ – auf deutsch: „schmutzig, rußig“. Die Straße ist von einer Rußschicht bedeckt, es knirscht bei jedem Schritt. Die Regenpfützen sind eine schwarze Brühe. Der Ort hat 5.000 Einwohner. Seine Fläche ist kleiner als das Bergwerk, das auch von den kilometerweit entfernten Nachbarorten zu sehen ist. Viele kleine Reihenhäuser auf beiden Seiten der Straße sind zu verkaufen. Holzschilder in den winzigen Vorgärten weisen auf das Maklerbüro hin, an das man sich bei Interesse wenden kann. Aber wer will hier schon hinziehen? Die ehemalige „Geschäftszeile“ ist in erbarmungswürdigem Zustand: ein kleiner Imbiß mit beschlagenen Scheiben, ein Fleischer, zwei Zeitungsläden und ein Tante-Emma-Laden. Dazwischen immer wieder leerstehende Läden, die mit Brettern vernagelt sind.

An der Kreuzung, wo der Weg vom Bergwerk auf die Hauptstraße mündet, liegt die Kneipe „Top Boozer“. Immer nach Schichtwechsel – im Werk wird in drei Schichten gearbeitet – ist sie gut besucht. Jeder neue Gast wird an der schmalen Resopaltheke gefragt: „Hast du schon unterschrieben?“ Im Hinterraum sitzen sieben oder acht Bergarbeiter um ein Feuer im Kamin. Bis auf ein großes Poster einer nackten Frau, das über dem Kaminsims hängt, sind die Wände kahl. „Das Poster haben uns die Penthouse-Mädels heute früh geschenkt“, sagt Gerry, ein kugelrunder junger Mann mit langen, schwarzen Haaren und einem Jeansanzug. Am Morgen sind vier leichtbekleidete Frauen im NUM-Gewerkschaftsbüro erschienen und haben Exemplare des Männermagazins Penthouse verteilt. „Eine Blondine hat sich ihr Oberteil ausgezogen und zwei Kumpel mit den Gesichtern an ihre Brüste gedrückt, während ein Fotograf Bilder gemacht hat“, erzählt Gerry. „Das war affengeil. Die Mädchen wollten damit zeigen, daß sie uns unterstützen. Das hat die Kumpel eine Weile von ihren Problemen abgelenkt.“

Am Nebentisch springt Johnny auf. „So ein Blödsinn“, schimpft er. „Denen ging es doch bloß um kostenlose Werbung für ihr verdammtes Magazin. Was tun die denn für euch? Davon bekommt ihr eure Jobs auch nicht zurück.“ Johnny ist unrasiert und trägt eine Skinhead-Frisur. Er hat nur noch drei oder vier Zähne im Mund, sein linkes Auge ist aus Glas. Sein Bierbauch ist in einen grünen Armeepullover mit ledernen Schulterstücken gezwängt. Johnny hat 17 Jahre als Bergarbeiter gearbeitet. Anfang der achtziger Jahre ist er zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er seinem Bruder bei einem Einbruch geholfen hat. Nach seiner Entlassung ist er wieder unter Tage gefahren, hat dann ein Jahr in einer Ölraffinerie gearbeitet, bevor er wieder ins Bergwerk zurückgekehrt ist. Vor zwei Jahren hat er sein Auge verloren, als ein Kollege mit dem Meißel abgerutscht ist. „Sie haben mich rausgeschmissen“, sagt er. „Im Bergwerk brauchst du beide Augen.“ Seitdem lebt er vom Klauen – „aber nie von den Arbeitern“. Nebenbei schreibt er Gedichte und Lieder, die er in der Kneipe vorträgt. Sein neuester Song heißt „Johnny on the dole“ – Johnny auf Stütze, seine Lebensgeschichte in fünf Strophen.

„Er ist ein prima Kerl“, sagt Barry Round. „Er beklaut nur die richtigen Leute. Ich würde ihm meinen Hausschlüssel anvertrauen.“ Barry, seine Frau Tanya und die beiden Kinder im Alter von acht und fünf Jahren wohnen in einer Neubausiedlung hinter dem „Miners' Welfare Club“, einem Verein, der Sport- und Freizeitveranstaltungen für die Bergarbeiter und ihre Familien organisiert. Im Clubhaus gibt es eine Bar, wo die Getränke billiger als in der Kneipe sind. „Das Haus müssen wir nun verkaufen“, sagt Tanya. „Wir haben eine Sozialbauwohnung beantragt. Ich will nicht aus Grimy weg, aber außer dem Bergwerk gibt es hier nichts.“ Barry war früher Boxer im Mittelgewicht. Auf dem Schrank im Wohnzimmer stehen Dutzende von Pokalen. Die Zeitungsberichte über seine Kämpfe hat er in ein zerfleddertes Fotoalbum eingeklebt. „Im Dezember werde ich 30“, sagt Barry. „Dann würden mir 10.000 Pfund Abfindung zustehen. Aber weil sie das Werk schon am Freitag zumachen, bekomme ich nur 7.500. Am schlimmsten ist es für die Kinder. Bisher hat es ihnen an nichts gefehlt, aber wenn die Abfindung weg ist, können wir ihnen nicht mehr soviel kaufen. Das bricht mir das Herz.“