: Millionenklage gegen Sellafield
■ WAA-Arbeiter zeugten leukämiekranke Kinder
Sheffield (taz) – Am Montag begann in der englischen Hauptstadt London ein Prozeß, der in der Rechtsgeschichte bisher einmalig ist: Zwei Familien haben British Nuclear Fuels (BNFL), die Betreiberin der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield in West-Cumbria, auf Schadensersatz in Millionenhöhe verklagt. Sie behaupten, daß die Strahlung der Plutoniumschleuder das Erbgut der Väter verändert habe und ihre Kinder deshalb an Leukämie erkrankt seien. Sollten sie vor Gericht Erfolg haben, werden noch 40 weitere Familien vor Gericht ziehen.
Die beiden Testfälle haben weitreichende Implikationen. Es ist das erste Mal, daß ein Gericht über Schadensersatzansprüche aufgrund von genetischen Veränderungen entscheiden muß. Sollte es der Klage stattgeben, so wäre auch der Weg für Opfer von Pestiziden, Chemikalien und Lösungsmitteln geebnet, die ebenfalls genetische Schäden verursachen können.
Allerdings wird es nicht einfach, die Atomanlage Sellafield als Verursacher eindeutig festzumachen. Die Richter entscheiden nach dem Prinzip der höchsten Wahrscheinlichkeit. In den juristisch ähnlich gelagerten Fällen von Gehirnschäden nach einer Keuchhusten-Impfung ist bisher jedoch immer gegen die Kläger entschieden worden, obwohl sich Wissenschaftler über den Impfstoff als Verursacher weitgehend einig sind.
Der Anwalt der beiden Sellafield-Familien, Richard Meeran, hat über 50 Wissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen als Zeugen geladen und mehr als hundert wissenschaftliche Berichte aus Deutschland, den USA, Osteuropa und Schweden vorgelegt. Große Hoffnungen setzt Meeran in einen Bericht des Umwelt-Epidemiologen Professor Martin Gardner von der Universität Southampton, der bereits im Februar 1990 die Verbindung zwischen Sellafield und der hohen Leukämierate unter Kindern nachgewiesen hat. In dem Bericht heißt es, daß zum ersten Mal „eine plausible statistische und biologische Erklärung“ für die Häufung von Krebsfällen in der Nähe von Atomanlagen gefunden worden sei.
Gardner wurde 1984 mit der Untersuchung beauftragt, nachdem in dem Ort Seascale bei Sellafield zehnmal mehr Fälle von Leukämie bei Kindern als im Landesdurchschnitt festgestellt worden waren.
Der Professor untersuchte 97 Krebskranke, die zwischen 1950 und 1985 in West-Cumbria geboren wurden. Er kam zu dem Ergebnis, daß das Krebsrisiko für die Kinder am größten sei, deren Väter in der WAA arbeiten und vor der Zeugung einer erhöhten Strahlung ausgesetzt waren. Bei einer Strahlung von 100 Millisievert erhöht sich die Wahrscheinlichkeit um das sechs- bis achtfache, daß eine genetische Veränderung der Spermien stattfindet, so Gardner, der über die Eindeutigkeit seiner Forschungsergebnisse selbst erstaunt war.
BNFL bestreitet natürlich den Zusammenhang zwischen der WAA und den Leukämiefällen und bezeichnet die Behauptungen der beiden Familien als „völlig unbegründet“. Die Firma argumentiert, daß die Zahl der Leukämieerkrankungen bei Kindern der Strahlenopfer von Hiroshima und Nagasaki nach der Atombombenexplosion eher gering gewesen sei. Auch BNFL hat Experten aus aller Welt als Zeugen vorgeladen. Der Prozeß wird mindestens sechs Monate dauern und bis zu zehn Millionen Pfund (ca. 25 Millionen Mark) kosten. Ralf Sotscheck
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