Neue Konzepte braucht das Land

■ Im Herbstgutachten empfehlen die fünf wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstitute: Löhne unter der Inflationsrate und eine Steuerreform aus einem Guß

Bonn (taz/dpa/AP) – Rezessionen werden nicht angekündigt. Würden die Wirtschaftsforscher den konjunkturellen Einbruch stets voraussagen, wäre es um die Wirtschaft noch schlechter bestellt. So aber müssen die fünf großen Forschungsinstitute ihre bislang zu optimistischen Prognosen lediglich nach unten korrigieren, wie es vor ihnen schon die fünf Weisen und das Wirtschaftsministerium getan haben. In ihrem gestern vorgelegten Herbstgutachten malen die Forscher ein düsteres Bild: Die Konjunktur im Westen ist eingebrochen, und im Osten steht der Aufschwung noch immer in den Sternen.

Die Institute gehen nunmehr für 1993 von einem Anstieg des Bruttosozialprodukts von nur noch 0,5 Prozent in Westdeutschland und von sieben Prozent im Osten aus. Daraus wird für Gesamtdeutschland, wie in diesem Jahr, ein Wachstum von einem Prozent errechnet. Die Verbraucherpreise, so die Forscher weiter, sollen im kommenden Jahr um 4,5 Prozent steigen – im Westen um 3,5 und im Osten um 8,5 Prozent. In diesem Jahr wird die Inflationsrate rund fünf Prozent betragen.

Am schlechtesten sehen die prognostizierten Arbeitslosenzahlen aus: 3,27 Millionen Menschen werden 1993 laut der Prognose ohne Arbeit sein – das sind knapp 280.000 mehr als in diesem Jahr. Vor allem in Ostdeutschland ist die Talsohle noch längst nicht erreicht: Im nächsten Jahr klettert die Arbeitslosenquote von 15,3 auf 16,3 Prozent.

Mit Lösungsvorschlägen tun sich auch die Wirtschaftsinstitute schwer. Die Steuerpolitik sollte im Rahmen des angekündigten Solidarpakts „mehr Klarheit über den zukünftigen Kurs“ schaffen, fordern die Wissenschaftler. Und in der Finanzpolitik wird eindringlich eine „Neuorientierung“ gefordert, die sich auch auf mittlere Sicht als tragfähig erweisen. Dies ist wohl der brisanteste Vorschlag an die Adresse der Bundesregierung, zumal die Forscher in diesem Zusammmenhang eine Transparenz der absehbaren Staatsverschuldung, weitere Einsparungen, Ausgabendisziplin und einen Subventionsabbau verlangen.

Eine Neuorientierung darf aber ihrer Ansicht nach nicht allein auf das Abtragen der öffentlichen Schuldengebirge ausgerichtet sein. Dabei gehörten viele staatliche Aufgaben auf den Prüfstand – beispielsweise die Investitionsförderung in Ostdeutschland, die auf ihre Wirksamkeit überprüft werden müsse.

Die Wirtschaftsforscher kritisieren auch den im Kabinett vorherrschenden Aktionismus: Es wäre verhängnisvoll, so die Gutachter, wenn die Ausgaben jetzt konzeptionslos gekürzt oder die Steuer- und Abgabenschraube weiter angezogen werde. Die Regierung solle eine Steuerreform „aus einem Guß“ vorlegen, die sowohl eine Umschichtung von direkten zu indirekten Steuern als auch eine Erhöhung des Einkommensteuerfreibetrags beinhalten könne, raten die Experten.

Das größte Opfer wird den Arbeitnehmern abverlangt: In der kommenden Tarifrunde sollen sie auf einen vollen Inflationsausgleich verzichten. Für die Lohnabschlüsse in Westdeutschland schlagen die Institute drei Prozent vor. In Ostdeutschland, wo eine Produktivitätssteigerung von zehn Prozent erwartet wird, sollen die Lohnabschlüsse zwischen dieser Größe und den westdeutschen Abschlüssen liegen – also umgerechnet etwa bei sechs bis sieben Prozent. Abgelehnt werden Überlegungen in der Bundesregierung, in den ostdeutschen Tarifverträgen gesetzliche Öffnungsklauseln vorzuschreiben: Neuverhandlungen sollten im gegenseitigen Einvernehmen der Tarifpartner erfolgen.

Die zunächst sinkenden Reallöhne sehen die Institute – das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung, das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung , das Institut für Weltwirtschaft sowie das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung als Vorleistung für den angestrebten Solidarpakt. Erwin Single