■ Der Charakter der Präsidenten — Von E.L. Doctorow
: Wir wählen unser Schicksal

Als Mr. Bush schlecht über Mr. Clintons Charakter sprach, sagte er auch, der Charakter eines Präsidentschaftskandidaten sei von Bedeutung. So ist es. Der Präsident, den wir bekommen, verkörpert auch das Land, das wir bekommen. Mit jedem neuen Präsidenten wird die Nation geistig in ein bestimmtes Gleis gelenkt. Er prägt unsere formbare nationale Seele. Er bringt nicht nur die Gesetze ein, sondern ist auch verantwortlich für jene Arten der Gesetzlosigkeit, die unser Leben und Handeln beherrschen. Und schließlich erweitern die Medien seinen Charakter zu unserem moralischen Wetterbericht. Er wird zum Antlitz unseres Himmels, zu den herrschenden Winden.

Weil ein Präsident unvermeidlich von den etablierten Kräften aus Reichtum und Macht nominiert und gewählt wird, hat es gewöhnlich zur Folge, daß er schon vor Amtsantritt von seinen Verpflichtungen gefesselt ist. Aber in Wirklichkeit ist er der freieste aller Menschen, wenn er den Mut aufbringt, diesen Gedanken zu fassen, und zumindest theoretisch könnten ihn die Millionen Menschen darin bestärken, die seine Kandidatur unterstützen, um etwas Gutes für sich selbst zu tun. Er könnte sogar unsere Stimmen ernst nehmen, die wir — Millionen Menschen unterschiedlicher Farbe, unterschiedlichen Geschlechts — abgegeben haben, in einem Akt des Vertrauens, mit gefalteten Händen, in einer Art Gebet.

Seit dem Ende des Vietnamkrieges betrieb die amerikanische Regierung unter republikanischen Präsidenten eine Politik der Strafe. Ihre Philosophie nannte sich Konservatismus, aber ihr Ergebnis in all diesen Jahren bestand darin, den Reichtum des Landes zu vergeuden und Lebensstandard, Gesundheits- und Bildungssystem zu verschlechtern für alle außer den chosen few. Was Clinton unzureichend als die Theorie des Herabtröpfelns bezeichnet, beruht in Wirklichkeit auf der oligarchischen Grundannahme, außer höheren Angestellten, Geldmanagern und den Reichen und Wohlgeborenen sei niemand wirklich von Bedeutung.

Es gibt eine Wahlkampfstrategie, um dieses Feudalwesen aus dem neunzehnten Jahrhundert umzusetzen, und auch in diesem Wahlkampf sehen wir sie erneut am Werke, weil sie sich noch immer als sehr wirksam erwiesen hat. Sie basiert auf der beißenden Wahrheit, daß die Politiker des rechten Flügels unsere Stammesängste und -abneigungen leichter auszubeuten vermögen als ihre Gegner, die nach unserem besseren Selbst suchen, um es für sich zu gewinnen. Die Rechte wird immer einen inneren Feind zu finden wissen. Sie wird darauf bestehen, daß ein Unterschied vorhanden ist zwischen wahren Amerikanern und denen, die sich nur als solche ausgeben. Und diese bilden das grundlegende Amalgam aus Menschen der falschen Farbe, Neueinwanderern oder Anhängern der falschen Glaubensrichtung.

Mr. Clintons Opposition während des Vietnamkrieges setzte ihn an die Spitze jener düsteren und drohenden Koalition falscher Amerikaner. Und außerdem ist er der verräterische Sohn, der es wagt, dem Vater entgegenzutreten. Soweit es nach George Bush und seinen Sympathisanten geht, haben die jungen Menschen dieses Landes, als sie gegen den Krieg in Vietnam aufstanden, das Recht ihrer Generation auf Nachfolge zu Herrschaft und Macht verspielt. Sie waren keines Vertrauens mehr würdig. Alle Präsidenten seit Vietnam, von Nixon bis Bush, gehörten der gleichen Generation des Zweiten Weltkriegs an. Sie werden nicht weichen. Die Kernpunkte ihrer Regierung bestanden darin, uns unsere Irrtümer nachzuweisen und die Uhr in jene Zeit zurückzudrehen, als die Menschen noch ihren Platz im Leben kannten und einhielten, ihren Herren untertan.

Dennoch liegt in all dem auch Hoffnung. Mr. Bush ist ein Kandidat in der Defensive. Seine Amtszeit war katastrophal. Er hat von seinen Vorgängern gelernt, wie man sich um das Amt bewirbt, aber jeder hat bemerkt, daß er — einmal im Amt — nicht mehr weiter wußte. Dieser Erbe der konservativen Hinterlassenschaft der Herren Nixon und Reagan verbreitet um sich die Atmosphäre eines schwächlichen Kronprinzen. Selbst seine eigenen Wähler auf dem rechten Flügel wollen nichts mehr von ihm wissen, vielleicht weil er für das Ende einer Ära steht, für den Niedergang einer herrschenden Idee oder auch nur für die versiegte Ölquelle. Die Lüge ist ein stillschweigendes Eingeständnis, daß man etwas Unzulässiges getan hat. Das Mosaik der Lügen des Präsidenten liefert zugleich das verschlüsselte Bild einer besseren Welt.

Wer würde sich nicht einen Präsidenten wünschen, der zunächst einmal nach seiner Wahl erkennt, daß er nicht nur der Präsident seiner Wähler ist, sondern des ganzen Volkes? Das ist ein einfacher Grundschulgedanke, doch angesichts der Beziehungen zwischen Geld und Politik in Amerika wird es leider auch ein Grundschulgedanke bleiben. Aber der Präsident, der den Mut aufbrächte, danach zu leben, stünde sofort an der Spitze einer Reformbewegung, um die Vorteile zunichte zu machen, die sich das große Geld durch seine politischen Beiträge und seine Lobby zu verschaffen wußte. Das setzt allerdings einen Präsidenten voraus, der nicht nur mutig ist, sondern auch moralisch und intelligent.

Ich wünsche mir bei einem Präsidenten ein entwickeltes Geschichtsbewußtsein, einen Präsidenten, der verstehen und ehrlich anerkennen würde, daß die politische Philosophie dessen, was wir euphemistisch den freien Markt nennen, in der Vergangenheit alles mögliche gerechtfertigt hat: von der Sklaverei über die Kinderarbeit bis zum Einsatz der Schußwaffe gegen Streikende und so weiter. Ich würde mir einen temperamentvollen Präsidenten wünschen, der Gerechtigkeit liebt und die Fähigkeit aufbringt, die Ehre einfacher Menschen zu respektieren.

Ein guter Präsident wäre stark genug, den Rahmen der politischen Diskussion auszudehnen, und die Sprache als bestes Mittel zur Annäherung an die Wirklichkeit würde er lieben und ehren. Dazu gehört eine Sensibilität für die ungeheure moralische Bedeutung eines jeden menschlichen Lebens. Vielleicht sogar ein Gefühl für Tragik, das ihn nicht ruhig schlafen ließe.

Vielleicht war es Präsident Bushs wichtigster Beitrag zu diesem Wahlkampf, daß er den Begriff des Charakters in die öffentliche Diskussion einführte. Er hat das wohl nicht so ganz durchdacht. Wir haben Herrn Bush erlebt. Wir kennen seinen Charakter. Aber vielleicht hat er den Wählern einen großen Dienst erwiesen, vielleicht war es sogar eine Art persönlicher Wiedergutmachung, daß er uns dazu einlud, wir sollten uns vorstellen, wie im Kontrast zu ihm und seinen Vorgängern der Charakter eines wirklichen amerikanischen Präsidenten beschaffen sein sollte.

E.L. Doctorow zählt zu den bekannten zeitgenössischen Schriftstellern der USA; u.a. erschienen von ihm auf deutsch „Ragtime“ und zuletzt „Billy Bathgate“. Den Essay entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Novemberheft der US-amerikanischen Zeitschrift The Nation.

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning