Die Schwäche des Vorsitzenden als Chance

■ Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde kritisiert Potsdamer Schweigetaktik und Rostocker Haftbefehle/ Opposition profiliert sich unter Kanal

Berlin. Auch die Jüdische Gemeinde unterstützt die bundesweite Demonstration gegen Ausländerhaß und Rassismus am 8. November in Berlin. In einem gestern veröffentlichten Aufruf heißt es: „Wir leben in ernsten Zeiten, und gerade wir Juden sind [uns – d. Red.] voll dessen bewußt, was die Folgen sein könnten, wenn man sich von den ersten Anzeichen der Gefahr mit Gleichgültigkeit abwendet [...] Wir stehen in der Pflicht, zu unserem eigenen Schutz und zu dem der unmittelbar bedrohten Asylbewerber und Ausländer deutliche Zeichen zu setzen.“ Damit meldet sich der Vorstand der Jüdischen Gemeinde nach langem Schweigen wieder zu Wort. „Ich bin nicht Heinz Galinski und kann nicht wie er zu jeder Frage Stellung nehmen und weiß auch nicht wie“, verteidigte sich der Vorsitzende Jerzy Kanal am Mittwoch auf der ersten Repräsentantenversammlung, die nach den Ereignissen in Sachsenhausen einberufen wurde. Eine Festellung, die insbesondere die sechs Vertreter der Demokratischen Liste nicht so einfach schlucken wollten. Ihre Liste der Versäumnisse war lang. Die Jüdische Gemeinde habe keinen Vertreter auf die Kundgebung nach Sachsenhausen geschickt. Sie habe zu den jüngsten ausländerfeindlichen Exzessen geschwiegen. Sie habe das brandenburgische Vertuschungsmanöver nach den Molotowcocktails auf Ravensbrück nicht kritisiert. Und sie habe nicht öffentlich protestiert, daß in Rostock 44 junge französische Juden nach der gewaltsamen Anbringung einer Mahntafel festgenommen wurden, während gleichzeitig Rechtsextremisten, die Brandsätze auf Menschen werfen, von der Polizei laufen gelassen werden. „Wir müssen uns einmischen“, sagte Ron Zuriel, und nicht im Vertrauen auf die Zuständigkeit des Zentralrats der Juden in Deutschland „unsere Stimme senken“.

Intern äußerte sich Jerzy Kanal am Mittwoch allerdings sehr erregt über die Rostocker Festnahmen. Die Tatsache, daß die Polizei von insgesamt nur 55 Demonstranten, 44 festgenommen habe und drei von ihnen zehn Tage lang – ohne Benachrichtigung der Angehörigen – wegsperrte, sei „unverhältnismäßig“, „einseitig“ und „ein Skandal“. Erst nach großen Schwierigkeiten sei es der Gemeinde überhaupt gelungen, daß Rabbiner Stein die Gefangenen in den über ganz Mecklenburg-Vorpommern verteilten Untersuchungsgefängnissen besuchen durfte. Als „lügenhafte Scheibchentaktik“ bezeichnete er im vertrauten Kreise auch die aktuelle politische Diskussion über den Artikel 16. Noch vor den Randalen habe man für eine Beschleunigung der Asylverfahren plädiert, seit „den gewaltsamen Ereignissen“ wolle man das Grundrecht ändern. „Das ist scheinheilig“, sagte der Vorsitzende.

Jerzy Kanals Protest wäre aber Statement geblieben, wenn nicht wiederum die Demokratische Liste die Initative in der vom „Liberalen Block“ majorisierten Repräsentantenversammlung ergriffen hätte. Auf Vorschlag von Moische Waks und Ron Zuriel beschloß die Versammlung einen Antrag an das Direktorium des Zentralrats der Juden. Er soll sich dafür einsetzen, daß die Asyldebatte „solange der Mob das Thema gewaltsam beherrscht“ ausgesetzt werde. Die politische Debatte über die Gewalt auf der Straße dürfe nicht in Verbindung mit der geplanten Grundgesetzänderung diskutiert werden, denn, so Waks, „es geht dem Mob nicht um die Ausländer, sondern um eine andere Republik.“ So zeigte die Debatte, jenseits des traurigen Anlasses, noch eines: die Unsicherheit des neuen Vorsitzenden ist jetzt die Chance der Opposition, die unter der Dominanz Heinz Galinskis jahrelang keinen Fuß auf den Boden bekommen hatte. Und im nächsten Frühjahr sind Wahlen.

Einig waren sich die 21 Repräsentanten, daß der Kontakt zur Presse verbessert werden müsse, da Zeitungen und Rundfunk „jüdische“ Themen kaum mehr aufgreifen würden. Anita Kugler