Die Schmerzgrenze war erreicht

Mit dem Rücktritt vom Ministeramt will sich Marianne Birthler die Freiheit bewahren, sich ohne Rücksicht auf Koalitionsdisziplin kritisch über Manfred Stolpe zu äußern  ■ Aus Potsdam Wolfgang Gast

Es sei manchmal so, als wolle man „mit einem filigranen Besteck ein ganz zähes Steak zerschneiden wollen“. Als Eßwerkzeug gilt Brandenburgs Bildungsministerin Marianne Birthler der Rechtsstaat und seine Intrumentarien. Daß diese manchmal schwer zu handhaben sind, hatte die Bündnis-90- Politikerin bereits vor zwei Jahren erfahren. Damals galt es, Stasi-belastete Lehrer und Lehrerinnen aus dem Bildungsbereich zu entfernen. Das zerbrechliche Besteck einer juristisch abgesicherten Vergangenheitsbewältigung hat Marianne Birthler gestern gegen eine Axt getauscht – in der seit zehn Monaten währenden Auseinandersetzung um die Stasi-Verbindungen des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe holte sie zum persönlichen Befreiungsschlag aus. Weil ihre „Schmerzgrenze“ erreicht sei, bat sie gestern vormittag den Ministerpräsidenten um ihre Entlassung – zwei Stunden später war diese erfolgt, Frau Birthler nur noch Ex-Ministerin.

Sie sei nicht länger bereit, „zweierlei Maß hinzunehmen“, begründete die Bürgerrechtlerin ihren spektakulären Schritt. Während sie auf der einen Seite persönlich die Verantwortung für die Entlassung von Hunderten von Stasi-belasteten Pädagogen trage, müsse sie auf der anderen verfolgen, wie durch die Verteidigungsstrategie Stolpes nach und nach die „Toleranzschwelle“ für eine belastete Vergangenheit gesenkt werde. Es werde allmählich salonfähig, nicht nur regelmäßig konspirative Treffen mit Mitarbeitern der Stasi unterhalten zu haben, toleriert werde inzwischen auch, daß Informationen über einzelne Personen an Mielkes Männer weitergegeben wurden. „Immer deutlicher spüre ich, daß unserer neugewonnenen Demokratie durch die Art und Weise der Diskussion um die Vergangenheit des Ministerpräsidenten schwerer Schaden zugefügt wird“, sagte Marianne Birthler. Stolpes Erklärungen seien „Ausflüchte, zweifelhafte Erklärungsmuster, verspätete und halbherzige Eingeständnisse“, die die demokratische Kultur zertörten. Kurz: „Ich bin nicht bereit, durch stillschweigende Billigung eine solche Politik mitzuverantworten.“

Letzter Anstoß zum Rücktritt war die Drohung des Ministerpräsidenten, bei weiterer Kritik Konsequenzen zu ziehen und die Potsdamer Ampelkoalition in Frage zu stellen. Noch vor einer Woche, als die Diskussion um Stolpes DDR- Verdienstmedaille den Höhepunkt erreicht hatte, hatten die Bündnis-Politiker Stolpe aus Koalitionsdisziplin „Zurückhaltung“ zugesichert. Nach erneutem Nachdenken sei Marianne Birthler bewußt geworden, daß „ich mich mit diesem Schweigen überfordere“. Zu ihrem politischen Selbstverständnis gehöre, „mich öffentlich zu relevanten Themen zu äußern“.

Manfred Stolpe nahm den Abschied seiner Bildungsministerin gestern gelassen, fast schon erleichtert entgegen. Am Rande der Landtagssitzung stellte er fest: keine Gefahr für die Ampel. Dabei konnte er sich auf eine gleichlautende Erklärung der Bündnis- Fraktion stützen. Deren Vorsitzender Günter Noooke hatte am Vormittag vor dem Landtag erklärt, „ganz ausdrücklich bedauere die Fraktion die persönliche Entscheidung Birthlers“ – ungeachtet dessen stehe seine Fraktion aber zum „Koalitionsvertrag“.

Regelrechten Regierungsalltag signalisierte denn auch die Übereinkunft, daß im Kabinett Stolpes nun der zweite Bündnis-Mann, der Umweltminister Matthias Platzeck, für eine begrenzte Zeit die Amtsgeschäfte seiner Ministerkollegin übernehmen soll. Über eine/n Nachfolger/in soll innerhalb der nächsten vier Wochen entschieden werden. Auch das Bündnis 90 scheint den Spagat zwischen offener und verhaltener Kritik am Ministerpräsidenten auszuhalten. Günter Nooke und Marianne Birthler erklärten übereinstimmend, es sei in der Fraktion durchaus möglich, „unterschiedliche Sichtweisen auf die Dinge auszuhalten“ und „mit unterschiedlichen Wertungen und Einschätzungen leben zu können“.