Zwischen Zweckbündnis und Verrat

Im Nordirak herrscht Bruderkrieg. Mit Hilfe der türkischen Armee bekämpfen irakische Kurden die türkisch-kurdische PKK-Guerilla  ■ Von Thomas Dreger

Seit Anfang des Monats versuchen Peschmerga, die bewaffneten Truppen der irakischen Kurden, Guerilleros der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus dem Nordirak zu vertreiben. Während die Peschmerga von Süden gegen die PKK vorgehen, greifen türkische Truppen von Norden an. Die „zangenförmigen“ Attacken sprechen für einen koordinierten Vernichtungsfeldzug gegen die türkisch-kurdische Guerilla. Die Führer der irakischen Kurdistan-Front verurteilten zwar öffentlich das türkische Vorgehen, gleichzeitig befahlen sie aber ihren Peschmerga, weiter auf die PKKler zu schießen. In den letzten Tagen gab es widersprüchliche Informationen, wonach die Peschmerga das Feuer eingestellt haben könnten. Das ändert aber wenig daran, daß in Kurdistan Bruderkrieg herrscht: Auf türkischer Seite blockiert die PKK die Grenze für Hilfslieferungen in den Nordirak.

Auf Einladung der irakischen Kurdistan-Front trafen sich am 12.Oktober in Arbil, dem Sitz des irakisch-kurdischen Parlaments, Vertreter kurdischer Parteien aus dem Irak, der Türkei, Syrien und dem Iran. Für die türkischen Kurden kamen keine Repräsentanten der PKK, sondern Mitglieder einiger Splittergruppen, die kaum über eine Basis unter der türkisch-kurdischen Bevölkerung verfügen. Alle Anwesenden riefen zur Beendigung des „Bruderkriegs“ auf. In einer Abschlußdeklaration forderten sie „volle Unterstützung und Solidarität mit dem kurdischen Parlament und dem Ministerrat“ der irakischen Kurden. Die Gegner des im Nordirak errungenen Autonomiestatus seien „Feinde der gesamten kurdischen Nation“. Die Formulierung ist eine deutliche Drohung gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan, der das in Irakisch-Kurdistan gebildete Parlament als „Barriere“ bezeichnet, die „keine Entwicklung im Interesse des kurdischen Volkes“ sei.

Bis zum Aufstand der irakischen Kurden im Frühjahr 1991 verfügte keine der kurdischen Organisationen über eigenes Territorium. Sämtliche Gruppen waren auf Duldung oder Unterstützung der Regierungen in der Region angewiesen. Die PKK unterhielt ihr Hauptquartier in der syrisch kontrollierten Bekaa-Ebene im Libanon sowie Camps im Irak und Iran. Die irakischen Kurden pflegten gute Kontakte zu Syrien und dem Iran, ihre exilierten Führer residierten in beiden Staaten. Iranische Kurden wiederum waren auf die Hilfe des Irak angewiesen. Dies sind nur die an der Oberfläche sichtbaren Beziehungen. Das komplizierte Geflecht, in dem auch etliche Geheimdienste eine Rolle spielen, läßt sich kaum vollständig überblicken. Die Regierungen in der Region hatten nie Skrupel, die im eigenen Land lebenden Kurden zu unterdrücken und gleichzeitig kurdische Organisationen in den Nachbarstaaten zu unterstützen. Ihr Anliegen war es, die verschiedenen Gruppen gegeneinander auszuspielen und sie von Fall zu Fall auch zur Destabilisierung der Nachbarstaaten zu instrumentalisieren. Wie gut diese Rechnung aufgeht, zeigen die aktuellen Kämpfe im Nordirak.

Besonders emotionale Reaktionen löst die Kooperation der irakischen Kurdistan-Front mit der türkischen Regierung sowie der PKK mit Bagdad aus. Die Führer der irakischen Kurden Massud Barzani und Dschalal Talabani ließen sich türkische Diplomatenpässe ausstellen. Während türkische Sondereinheiten die eigene kurdische Bevölkerung massakrierten, lobte Talabani auf Staatsbesuch in Ankara die „türkische Demokratie“. Die PKK kooperierte vor dem zweiten Golfkrieg mit jenen irakischen „Sicherheitsdiensten“, die für die Anfal-Kampagne, den Massenmord an den irakischen Kurden, verantwortlich sind. In den letzten Wochen mehren sich ernstzunehmende Berichte, denen zufolge die PKKler ein neues Lager bei Bagdad eingerichtet haben und von den Irakern mit modernen chinesischen Waffen ausgerüstet worden sein sollen. Vor Ort zu überprüfen sind solche Berichte freilich nicht.

Diese wechselnden Allianzen bewegen sich immer wieder im Grenzbereich zum Verrat. Was für die einen jedoch wie ein Pakt mit dem Teufel wirkt, scheint aus der Sicht der anderen als überlebensnotwendiges Zweckbündnis, zu dem es keine Alternative gibt. Die irakischen Kurden sind der türkischen Regierung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Da die irakische Führung eine Wirtschaftsblockade gegen die kurdisch kontrollierten Landesteile verhängt hat, überleben sie nur durch Hilfslieferungen, die fast ausschließlich über die Türkei ins Land kommen. Wenn die in Ostanatolien stationierten alliierten Kampfflugzeuge abziehen würden, könnten Bagdads Truppen den Nordirak in wenigen Stunden zurückerobern.

Der PKK dagegen bleiben unter den Regierungen des Nahen Ostens zur Zeit außer der Führung Saddam Husseins kaum noch Unterstützer. Auf Druck der USA und der Türkei ließ Syrien im Frühjahr das PKK-Hauptquartier in der Bekaa-Ebene schließen. Die iranische und die türkische Regierung vereinbarten kürzlich ein Sicherheitsabkommen, das der PKK den Rückzug in die islamische Republik unmöglich machen soll. Im Gegenzug versprach die türkische Regierung, die Handlungsfähigkeit der auf ihrem Gebiet aktiven oppositionellen iranischen Volksmudschaheddin einzuschränken. Der PKK bleibt nur die Hilfe Bagdads oder die vollständige Verlegung ihrer Leute nach Türkisch- Kurdistan. Aktuelle PKK-Publikationen strotzen zwar von martialischen Siegesparolen, die den baldigen Sieg über die türkische Armee ankündigen. Tatsächlich muß die Organisation jedoch fürchten, daß sie einen Dauerguerillakrieg gegen die Nato-Armee der Türkei ohne Rückzugsgebiet und Waffenhilfe nicht lange durchhalten kann. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der überwiegende Teil der türkischen Kurden angesichts der brutalen türkischen Repression inzwischen hinter der PKK steht.