Sonderbare Ansichten über die Pressefreiheit

■ Ermittlung gegen eine Richterin wegen Rechtsbeugung ist nichts für die Öffentlichkeit / Ein Stück aus dem Tollhaus

ist nichts für die Öffentlichkeit / Ein Stück aus dem Tollhaus

Dürfen Zeitungen die Namen von Personen der Zeitgeschichte nicht mehr nennen, wenn diese womöglich Dreck am Stecken haben? Mit dieser Frage muß sich in der nächster Zeit der Bundesgerichtshof - und danach wohl sicherlich auch das Bundesverfassungsgericht - befassen. Anlaß: Die Kieler Nachrichten sind kürzlich zur Zahlung von 10000 Mark Schmerzensgeld an eine Richterin verdonnert worden, weil das Blatt unter voller Namensnennung über ein Ermittlungsverfahren gegen die Juristin berichtet hatte.

Im Sommer 1991 ging es im Kieler Gerichtsgebäude hoch her: In öffentlicher Verhandlung warf der Anwalt eines Angeklagten der Vorsitzenden Richterin der 3. Großen Strafkammer des Kieler Landgerichts vor, sich der „Rechtsbeugung“ schuldig gemacht zu haben. Die Frau in der schwarzen Robe hatte wichtige Verteidigerpost des Angeklagten kontrolliert. Der Anwalt stellte gegen die Richterin nicht nur Dienstaufsichtsbeschwerde, sondern auch Strafantrag.

In der Folgezeit berichteten die Kieler Nachrichten mehrfach in einer Schlagzeilenserie über den Juristenkonflikt - unter voller Namensnennung der Richterin. Das Blatt argumentierte, die Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, zu erfahren, welche JuristInnen sich im Clinch befinden. Die Kieler Nachrichten berufen sich dabei auf Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes, der die Pressefreiheit garantiert.

Doch die 9. Zivilkammer des Kieler Landgerichts hält offenkundig von diesem Paragraphen wenig, zumindest wenn er Richter betrifft. Es verurteilte die Zeitung zur Zahlung von 10000 Mark Schmerzensgeld. Grund: Die Kieler Nachrichten hätten „mit ihrer Berichterstattung über das dienstliche Verhalten der (Richterin) deren allgemeines Persönlichkeitsrecht widerrechtlich verletzt, indem sie die Richterin unter voller Nemensnennung der Rechtsbeugung verdächtigte.“

Damit nicht genug: Das Gericht vertrat die Aufassung, daß es den Medien künftig untersagt werden könne, über Ermittlungsverfahren zu berichten. „Die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens ergibt (...) für sich selbst noch keinen zureichenden Grund für eine öffentliche Erörterung.“

Und auch daß der Vorfall in öffentlicher Hauptverhandlung ausgetragen worden war, ist für die 9. Zivilkammer belanglos: „Die Öffentlichkeit im Sinne des Strafprozesses darf nicht mit der presserechtlichen Öffentlichkeit verwechselt werden: Sie ist streng von ihr zu unterscheiden.“ Und noch eins drauf: „Es ist nicht so, daß alles, was in der Öffentlichkeit erörtert worden ist, in die gesamte Öffentlichkeit getragen werden darf.“

Auch daß die Richterin nach der bisherigen Definition im Presserecht als Person der relativen Zeitgeschichte anzusehen ist, ließen die Herren der 9. Kammer in ihrer hemmungslosen Richtersolidarität nicht gelten. Denn die Kieler Nachrichten hätten 59 Prozeßtage nicht über das von der Richterin geleitete Verfahren berichtet, erst als am 60. Verhandlungstag der Verteidiger den Strafantrag in öffentlicher Sitzung gestellt habe, sei auch ein Reporter des Blattes im Gerichtsaal erschienen.

Es wäre damals nur zulässig gewesen, in solcher Art und Weise und in solchem Umfang über den Clinch zu berichten - beispielsweise im hinteren Wirtschaftsteil ohne Namensnennung - das in Juristenkreisen die Richterin zu identifizieren gewesen sei. Das Blatt hätte es aber unterlassen müssen, in der Form zu berichten, daß auch Bekannte, Nachbarn, Ärzte, Kaufleute über den Konflikt Rückschlüsse ziehen könnten.

Die Kieler Nachrichten haben inzwischen Revision gegen dieses Urteil eingereicht. Ein Verlagssprecher gegenüber der taz: „Dieses Urteil kann und darf so nicht stehen blieben.“ Und in Journalistenverbänden herrscht ein großes Interesse, daß dieses Kieler Maulkorb-Urteil vom Tisch kommt. Aber auch die attackierte Richterin hat Rechtsmittel eingelegt. Sie verlangt nämlich 60000 Mark Schmerzensgeld ... Kai von Appen